Rundbrief Carl Placke

Unser aktueller Friedi  Carl berichtet seine ersten Eindrücke aus dem FSJ in Nischni Nowgorod. Vielen Dank für diesen interessanten Bericht und die Fotos, viel Freude beim Lesen dieser Eindrücke:

Mein Name ist Carl Placke und ich lebe jetzt seit mehr als zwei Monaten in einem Land, welches
ich zuvor nur von einer zweiwöchigen Klassenfahrt nach St. Petersburg zu kennen glaubte.
Seit anfang September leiste ich in der russischen Millionenstadt Nischni Nowgorod (ehm. Gorki)
meinen freiwilligen Friedendienst. Konkret heißt das, dass ich hier in die ‚Korrekturschule 89‘,
einem Schulinternat für behinderte Kinder arbeite und nachmittags noch ältere behinderte
Menschen betreue.

Nischni Nowgorod hat ca. 1,3 Millionen Einwohner und liegt ca. 400km östlich von Moskau.
Mit mir sind drei weitere Freiwillige hier, mit denen ich mir eine Wohnung teile.
Einen wichtigen Teil meines Lebens in Nischni Nowgorod stellt selbstverständlich meine Arbeit da.
Die Arbeit in der Schule ist besonders interessant. Ich muss zugeben, dass ich anfangs starke
Berührungsängste hatte, die allerdings relativ schnell verflogen.
In meiner Klasse gibt es ein erstaunlicherweise gravierende Leistungsunterschiede was die
Lernfähigkeit angeht. So gibt es unter den neun Kindern, die in meiner Klasse sind, Kinder dessen
Behinderungen so stark sind, dass sie nicht oder kaum reden können und der ‚Unterricht‘ mehr einer
Beschäftigungstherapie gleichkommt. Doch auch bei den schwersbehinderten Kindern ist zu bemerken, dass sie trotz ihrer Behinderung unglaublich lebenfreudig sind. Eine meiner ersten Erfahrungen, die ich machen durfte war die, dass Kinder gerne Grenzen austesten. Auch bei dem ’neuen deutschen Freiwilligen‘. Doch mittlerweile kann ich voller Stolz sagen, dass man zu jedem Schüler ein gutes Verhältnis aufgebaut hat. Selbstverständlich zu manchen ein besser-, zu anderen ein etwas lockereres.

Die Leitungsunterschiede wirken sich selbstredend auch auf meine konkrete Arbeit aus.
Mit den leistungsstärkeren Kindern übe ich beispielsweise Lesen, Schreiben oder unterstütze sie
beim Lösen einfachster Mathematikaufgaben; Während sich die Arbeit mit den
leistungsschwächeren Schülern darauf beschränkt, sie zum Lösen von Puzzlen oder zum Sortieren
von Farbblöcken zu animieren, was auch nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Auch wenn die Arbeit
keinesfalls körperlich anstregend ist, so muss man doch immer wach sein und darf sich keine
Sekunde der Unaufmerksamkeit leisten, in der eines der Kinder bespielsweise aus dem
Klassenraum rennen oder gar wild um sich schlagen könnte.
Besonders schlimm ist Denis, ein Junge mit sehr starke ausgeprägtem Authismus, der die meiste
Zeit in einer Art Trancezustand im Klassenraum sitzt. Denis ist ca. 160 cm groß und recht kräftig
gebaut. Interessant zu beobachten ist, dass Denis zwar schreiben, lesen und folglich auch sprechen
kann, aber immer wieder wie aus dem Nichts ausrastet, wild um sich schlägt, hysterisch anfägt zu
lachen und dann wieder in seinen Trancezustand zurückfällt.

In der Klasse

In der Klasse

Anfangs war es total schwer mit diesen Situationen umzugehen, doch mit der Zeit habe mehr und mehr Sicherheit im Handhaben besagter Situationen bekommen. Zugegebenermaßen muss ich sagen, dass ich die Art und Weise wie die Lehrerin mit ihm umgeht nicht immer ganz nachvollziehen kann. So wird einerseits über einfache Belohnungen (Süßigkeiten oder Spielsachen) versucht Denis zu erreichen, andererseits mit körperlicher Bestrafung, wenn er sich weigert zu arbeiten – leider nicht immer erfolgreich. Auffallend ist ebenfalls, dass in Russland wohl alle Behinderungen, die nicht eindeutig zuzuordnen sind, als Authismus abgestempelt werden, was eine gezielte Betreeung behinderter Kinder
zusätzlich erschwert.

Die Arbeit in der Schule ist zwar relativ eintönig, wird aber glücklicherweise immer wieder durch
besondere Ereignissen und Aufgaben interessant gemacht. So wurde mir z.B. aufgetragen mit
einigen Kindern deutsche Lieder zu üben. Hierzu habe ich u.a den deutschen Text von „Lasst und
froh und munter sein“ mit kyrillischen Schriftzeichen aufgeschrieben und so einen effektiven Weg
gefunden den Kindern deutsche Lieder beizubringen. Mit wenigen Gitarrenakkorden begleitet
klingt das auch schon von Tag zu Tag besser. Doch auch andere Unternehmungen wie der Besuch in einem russischen Kindertheater oder ein Geburtstagsfest der Schule, zu welchem die Kinder kleine Gedichte oder Lieder einstudieren, bringen etwas Farbe ins Alltagsgrau.
Wie bereits angesprochen war es anfangs echt eine Überwindung sich auf die neuen Umstände
einzulassen. Vom Arbeiten mit den Kindern, bei welchem Körperkontakt schlicht unumgänglich ist,
bis zum Schulessen war es alles andere als einfach, sich auf die neue Situationen einzustellen.

Normales russisches Schulessen- schmeckt besser als es aussieht

Normales russisches Schulessen- schmeckt besser als es aussieht

Die Arbeit in der Schule kostet zwar Nerven und ist teilweise auch echt stressig, dennoch gehe ich
gerne zur Schule. Gerade hier in der Schule gelang es mir erstaunlich schnell die anfangs sicherlich vorhandene Sprachbarriere zu überwinden. Auch dank der Tatsache, dass hier niemand Englisch geschweige denn Deutsch spricht, war man praktisch gezwungen schnellstmöglich seinen Wortschatz auf eine ausreichende Größe zu erweitern. Doch gerade außerhalb der Schule bin ich immer wieder auf abweisendes Unverständis gestoßen, was fehlende Sprachkenntnisse angeht, beispielsweise im Supermarkt oder beim Kauf von Fahrkarten.
Ein weiterer wesentlicher Teil meiner Arbeit ist die Betreuung erwachsener Behinderter. Hierzu
werde ich exemplarisch über die Arbeit mit Mischa berichten:

Mischa ist ein Mann Ende 50, der immer noch in einer kleinen Wohnung mit seiner Mutter wohnt.
Mischa ist gehbehindert und verbringt die meiste Zeit seines Lebens in seiner Wohnung.
Deshalb freut er sich jedesmal wenn ich mit ihm spazieren gehe. Besonders bei den Spaziergängen mit Mischa wird mir immer wieder bewusst, wie schwierig es für Behinderte ist in Russland zu leben. Neben den meist katastrophalen Zuständen der Gehwege, die nur in seltensten Fällen abgesenkte Bordsteine für Rollstühle haben, ist auch oft das Verständnis der Menschen zu missen. So findet man Stellen für Rollstuhlfahrer,wenn vorhanden, regelmäßig zugeparkt. Mischa wohnt zwar in der untersten Etage seines Hochhauses, doch kommt er ohne Hilfe die Treppe in seinem Rollstuhl nicht runter, weil auch hier jegliche Hilfseinrichtung für Behinderte fehlt. Auch die seit Ende Oktober winterlichen Wetterverhältnisse erleichtern das Leben von Rollstuhlfahrern nicht. Gerade auch deshalb ist die Dankbarkeit, die mir entgegengebracht wird immer wieder einfach nur schön zu erleben!

Mischa und ich beim Spaziergang

Mischa und ich beim Spaziergang

Andererseits muss ich auch zugeben, dass die Verbitterung bei Mischa aufgrund seiner Lebenssituation schier unübersehbar ist. Doch auch hier ist es schön, ein kleiner aber positiver Teil in Mischas Leben zu sein, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit ist. Mit Mischa kann man sich echt über alles unterhalten. Von Fußball, Hockey bis zu Wahlen in Amerika, haben wir immer
wieder interessante Gespräche. Auch wenn meine Sprache an vielen Stellen und ausbaufähig ist.

Doch auch außerhalb meiner ‚offiziellen Arbeit‘ ist für mich ein ebenfalls wichtiger Teil, die Völkerverständigung. Generell kann ich sagen, dass ich mich anfangst schwer getan habe, neue Leute kennenzulernen, mittlerweile jedoch viele neue und interessante Leute kennengelernt habe, auch wenn die Erfahrungen nicht immer nur positiv waren. Doch gerade Gespräche über aktuelle Weltpolitik mit Russen in meinem Alter finde ich immer wieder aufs neue faszinierend. Die verschiedenen Sichtweisen, die auch von den russischen und deutschen Medien verbreitet werden, stellen in diesen Gesprächen immer einen großen Teil dar.

Glücklicherweise habe ich auch neben der Arbeit einige Freizeitaktivitäten gefunden. So spiele ich
in einem Universitätsteam Fußball, wobei auch dies nicht ohne anfängliche Probleme geschehen ist.
Ich muss sagen, dass ich Russland, in meinen ersten zwei Monaten, als unglaublich  kompliziert bürokratisches Land kennengelernt habe. Hieran habe ich mich jeodch, wie an den generellen Lebensstandart in Russland, zum Glück gewöhnt.
Auf die Frage wo denn der größte Unterschied zwischen Russland und Deutschland sei, muss ich
immer wieder antworten, dass es mir sehr schwer fällt die russische Mentalität und Lebensweise in
Worte zu fassen. Vielleicht ist introvertiert ein annähernd passendes Wort. Mir persönlich scheint es, als hätten viele Russen eine Art ‚Schutzwall‘ aus anfänglich abweisender Unfreundlichkeit um sich, der, wenn man ihn denn einmal gebrochen hat, einen Blick auf unglaubliche Gastfreundlichkeit freigibt.

Auch war ich überrascht davon, dass der Hausflur in nahezu jedem Mehrparteienhaus absolut
unhygienisch und herruntergekommen ist, während eine jede Wohnung selber wie ein Schatz
gepflegt wird. Ich persönlich versuche mir dieses, auf mich schockierend wirkende Desinteresse am
öffentlichen Allgemeinbesitz, welches in vielen Bereichen zu bemerken ist, mit vergangenen
Sowjetzeiten zu erklären.

Generell ist die Lebensweise der Russen viel grober rund rauer, als die, die ich aus Deutschland
gewohnt bin. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist meine tägliche Fahrt mit der russischen Maschrukta, einem russischen Verkehrsmittel, mit dem jede Fahrt ein neues Abenteuer ist. Eine Maschrukta ist ein kleiner Bulli, in den nach russichem Verständnis unendlich viele Leute passen. Gerade hier war das neue Wasser in welches man geworfen wurde besonders kalt und das Verstädnis für anfänglich vorkommende Missverständnisse besonders klein. Doch mittlerweile kann ich sagen, dass ich die ‚Spielregeln‘ Russlands mehr oder minder verstanden- und mich an das Leben in meiner ’neuen Heimat‘ endlich gewöhnt habe. Nach den zwei Monaten, kann ich mit Gewissheit sagen, dass ich endlich voll und ganz in Russland angekommen bin und mich selbstverständlich auf den Rest meiner Zeit hier freue.

Mit lieben Grüßen aus Nischni Nowgorod
Carl Placke