Rundbrief Marius Voss

Unser aktueller Friedi Marius berichtet seine ersten Eindrücke aus dem FSJ in Nischni Nowgorod. Weitere Berichte folgen in den kommenden Wochen. Vielen Dank für diese ausführlichen Eindrücke und viel Freude beim Lesen dieses interessanten Berichts.

Hallo an alle Interessenten und Unterstützer,

seit gut zwei Monaten lebe ich jetzt im Rahmen meines freiwilligen sozialen Jahres in der russischen
Stadt Nischni Nowgorod. Zeit einen ersten kleinen Blick zurück zuwerfen. Kurz zu meiner Person:
mein Name ist Marius Voss, ich bin 19 Jahre alt und vor Antritt meines Freiwilligendienstes habe
ich die Schule mit dem Abitur abgeschlossen.

Mit diesem Rundbrief möchte ich zuerst kurz meine ersten Eindrücke von Menschen, fremder
Kultur, Stadt und Land, mit allen Interessenten und Unterstützern teilen und danach
schwerpunktmäßig auf das Projekt, also meine soziale Arbeit hier in Nischni Nowgorod eingehen.
Nischni Nowgorod liegt ungefähr 400 km (für Russland eine sehr kleine Distanz) östlich von
Moskau an der Mündung der Oka in die Wolga, dem größten Fluss Europas. Mit ca. 1,3 Millionen
Einwohnern ist Nischni Nowgorod die fünft größte Stadt Russlands. Sie ist ein wichtiges
russisches Handels- und Industriezentrum, das auch ausländische Firmen wie z.B. VW anlockt.
Einige kennen die Stadt noch unter dem Namen Gorki, den sie von 1932-1990 zu Ehren des
russischen Schriftstellers Maxim Gorki trug.

Im Mai habe ich die Stadt bei einer fünftägigen Kurzreise schon kennengelernt. Als ich jetzt Anfang
September wieder nach Nischni kam, begleitete mich aber ein völlig anderes Gefühl. Mir war
bewusst, dass Nischni Nowgorod jetzt für ein Jahr mein Lebensmittelpunkt sein wird. Mit diesem
Bewusstsein nimmt man eine Stadt ganz anders war. Der unheimlich schlechte Zustand vieler
Straßen und öffentlicher Parks, das eintönige Grau der Plattenbauten, die das gesamte Stadtbild
prägen, fielen mir viel stärker und auch negativer auf. Auch ich wohne jetzt in einem grauen
Plattenbau, der schon merklich in die Jahre gekommen ist und teile mir im 7. Stock mit meinen drei
Mitfreiwilligen eine kleine Wohnung.

Die Anfangszeit war natürlich unheimlich aufregend. Das erste mal Marschrutka fahren, eine Art
Kleinbus der das meistgenutzte öffentliche Verkehrsmittel darstellt; das erste mal den Taxipreis
selbst auf russisch aushandeln; das erste mal bei einer Babuschka (russ. = Großmutter) am
Straßenrand Obst kaufen; die russische Küche; die ersten neuen Kontakte und Gespräche mit
Einheimischen usw.

Bei all der anfänglichen Euphorie gab es natürlich auch ernüchternde Momente. So habe ich
Russland teilweise als unheimlich bürokratisch wahrgenommen. Bei dem Versuch in einem
Uniteam Fußball spielen zu können, scheiterte es beispielsweise lange Zeit an einem fehlenden
Universitätsausweis ohne den man keinen Zutritt zur Uni hat. Dieses Problem hat sich zum Glück
gelöst.

Insgesamt habe ich mich hier mittlerweile gut eingelebt, habe einen geregelten Wochenablauf, erste
Kontakte geschlossen und schon einiges über die russische Mentalität lernen können. Zentraler Punkt meines Lebens hier in Nischni Nowgorod ist natürlich meine Arbeit. Ich arbeite in der sogenannten Korrekturschule Nr. 39. Dies ist eine Schule für behinderte Kinder mit angeschlossenem Internat. Neben der bekannten Einteilung in Jahrgangsstufen sind die Klassen in A, B und D unterteilt. Diese Unterteilung entspricht dem Grad der Behinderung der Kinder. Die Kinder in den A-Klassen sind vornehmlich lernverzögert, was in Deutschland vielleicht Sonderschulniveau entsprechen würde. Die Kinder in den D-Klassen sind alle geistig schwerstbehindert. Dort lernen viele Autisten, Kinder mit Down-Syndrom etc. Die B-Klassen liegen dementsprechend von der Leistungsfähigkeit irgendwo in der Mitte.
Ich arbeite in der Klasse 6 D. In meiner Klasse sind drei Kinder: Egor, Mansur und Ela. Alle bräuchten
eigentlich eine Einzelbetreuung, was aber die Schule personell natürlich nicht gewährleisten kann.
Der Lehrplan der Schule für die D-Klassen verfolgt mehrere Ziele. Einerseits wird versucht den
Kindern in der Schule einen geregelten Tagesablauf zu ermöglichen, dabei ihre Selbstständigkeit zu
fördern und sie auf Alltagssituationen vorzubereiten. Andererseits sollen die Kinder individuell nach
ihren Fähigkeiten gefördert werden. Dabei wird ein Schwerpunkt auf das Rechnen mit Zahlen von
1-10 und das Schreiben und Lesen erster Wörter gelegt. Ein anderer Schwerpunkt liegt in der
Förderung von Motorik und Sinnen.

Die meiste Zeit verbringt die Klasse zusammen mit der Klassenlehrerin. Es gibt aber auch
Unterichtsstunden in anderen Klassenräumen bei anderen Lehrern. Zudem gehört ein gemeinsames
Frühstück und Mittagessen zum Schulalltag. Durch diesen Schulalltag begleitete ich die Kinder
meiner Klasse und helfe dabei immer da wo ich gerade gebraucht werde. Man kann also sagen, dass
ich als eine Art zweiter Klassenlehrer die Lehrerin meiner Klasse unterstütze. Abseits vom
Unterricht bedeutet dies, dass ich mit den Kindern von einem zum anderen Klassenraum gehe,
ihnen beim Essen helfe, mit ihnen auf Toilette gehe, mit ihnen Hände wasche oder sie vor bzw. nach
der Schule umziehe.

Während der Unterrichtszeit arbeite ich meistens mit einem Kind alleine und trage damit dazu bei,
dass die Kinder zumindest zeitweise individuell gefördert werden können. Aber was bedeutet das
genau? Um das zu beantworten muss ich ein bisschen ausholen. Zwei der drei Kinder in meiner
Klasse leiden unter Autismus. Das sind Egor und Ela. Mansur hat eine geistige Behinderung, die
mir die Lehrerin nicht näher erklären konnte. Einerseits weil sie es scheinbar selber nicht so genau
weiß, andererseits aber auch, weil ich mit meinen bisherigen Russischkenntnissen nicht alles
verstehe. Ich habe natürlich mit allen drei Kindern sehr viel zu tun. Am häufigsten arbeite ich
jedoch mit Egor, weswegen ich an dieser Stelle besonders auf ihn und die Arbeit mit ihm eingehen
will.

Als ich Egor kennengelernt habe, hätte ich ihn auf elf, vielleicht zwölf Jahre geschätzt. Er ist jedoch
schon 14 und leidet als autistisches Kind unter einer Störung der Wahrnehmungs – bzw.
Informationsverarbeitung. Er versteht also einen Großteil der internen und externen Reize nicht.
Ganz offensichtlich ist, dass er Reize schwächer wahrnimmt. Ich muss ihn beispielsweise laut
ansprechen, fest berühren oder mit einem Gegenstand vor seinen Augen rumwedeln, wenn ich bei
ihm eine Reaktion hervorrufen will. In der ersten Zeit wusste ich nicht wie ich damit umzugehen
habe und wie ich überhaupt einen Zugang zu Egor bekomme. Egor kann bis auf ganz wenige
Wörter überhaupt nicht sprechen und hat deshalb nur wenige Möglichkeiten sich auszudrücken. Bei
ihm geht daher viel über Körperkontakt. Unheimlich oft fasst er irgendwelche Gegenstände an oder
berührt Personen. Dies scheint seine Art zu sein, Außenwelt und Mitmenschen wahrzunehmen und
kennenzulernen. Schnell wurde mir klar, dass Körperkontakt die einzige Möglichkeit ist Egor aus
seiner „Traumwelt“ zu holen, in die er während der Unterrichtsstunden immer wieder
abzuschweifen scheint. Anfängliche Hemmungen bezüglich Körperkontakt mussten daher schnell
abgelegt werden und mittlerweile habe ich schon ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wie ich Egor
von seinen kurzen „Ticks“ (seine Augen beginnen zu zucken, häufig steht er auf, dreht sich und
klatscht krampfhaft in die Hände) befreie, ihn wieder auf unsere Welt hole und ihn zum arbeiten
animiere.

Die Arbeiten, die Egor machen soll sind ganz unterschiedlich. Häufig soll er Bauklötze nach Farben
sortieren. Dabei sitze ich daneben und muss ihn bei jedem Bauklotz neu motivieren. Oft brauchen
wir auf Grund der obengenannten Faktoren für 20 Bauklötze über eine halbe Stunde. Dabei wird
ganz deutlich, dass bei meiner Arbeit neben Einfühlungsvermögen, eines ganz besonders wichtig
ist: Geduld. Eine andere Aufgabe lautet Formen – bzw. Zahlen zeichnen. Ohne meine Hilfe würde Egor
irgendwie auf dem Blatt kritzeln. Deshalb gebe ich ihm den Stift, nehme dann seine Hand und wir
zeichnen die vorgedruckten Formen und Zahlen zusammen, sozusagen Hand auf Hand, nach.
Häufig lese bzw. sage ich Egor auch einfach zahlen oder kurze Wörter vor, die er dann nachsagensoll. Dies klappt oft nur bedingt und wenn sehr undeutlich.

Es gibt natürlich noch viele andere Aufgaben, die aber alle ähnlich simpel sind und die gleichen
Ziele verfolgen. Die Realisierung dieser Ziele ist bei den Kindern oft ein Prozess über viele Jahre,
weshalb mir in den zwei Monaten in denen ich jetzt hier bin kein offensichtlicher Lernerfolg
aufgefallen ist. Trotzdem habe ich schnell gemerkt, wie wichtig die individuelle Förderung der
Kinder ist. Von einem persönlichen Erfolg bei meiner Arbeit mit Egor, will ich an dieser Stelle noch
berichten. Als ich angefangen habe mit ihm zu arbeiten, war er motorisch nicht in der Lage den
Klickverschluss seines Schulranzens zu öffnen. Ich habe es jeden Tag mit ihm geübt. Jetzt kann er
es alleine. In gewisser Weise doch ein kleiner, sichtbarer Lernerfolg.

Neben der Arbeit mit Egor, zu dem ich schon eine erste Bindung aufbauen konnte, habe ich in der
Schule natürlich noch viele andere neue Erfahrungen gemacht. Das Essen war anfänglich
unheimlich gewöhnungsbedürftig, manche Lehrmethoden in der Schule erschienen mir fragwürdig.
Auch wurde ich mit der ein oder anderen ziemlich ekligen Situation konfrontiert. Mittlerweile kann
ich aber sagen, dass ich schon eine gewisse Routine in meiner Arbeit entwickelt habe und trotzdem
gespannt bin wie es in den nächsten Monaten weitergeht.

Die Schule ist jedoch nur der erste Teil meiner Arbeit. Neben dem offiziellen Arbeitsplatz betreuen
wir Freiwilligen noch Invaliden zuhause, also Menschen die körperlich behindert und auf Hilfe
angewiesen sind.
An dieser Stelle möchte ich deshalb noch von meiner Arbeit bei Roman berichten, einem ganz
besonderen Arbeitsplatz. Ihn besuche ich zwei mal die Woche. Einmal alleine und einmal
zusammen mit einem Mitfreiwilligen. Er wohnt in Awtosawod, dem ärmlichen Arbeiterviertel von
Nischni Nowgorod zusammen mit seiner Oma Natascha und seiner Tante Ela.
Roman ist 18 Jahre alt und komplett verkrüppelt. Er kann sich kaum bewegen und sitzt den ganzen
Tag nur auf einem Sofa herum. Er wiegt schätzungsweise 35 Kilogramm und ist körperlich
unterentwickelt. Sein Rücken ist komplett krumm und verdreht und auch Arme und Beine sind
fehlentwickelt. Er hat noch nicht mal die Kraft seinen Kopf alleine aufrecht zuhalten.
Eine wesentliche Ursache für Romans Situation, ist ein Unfall in seiner Kindheit gewesen. Seitdem
verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand von Jahr zu Jahr.
Romans Tante Ela ist Ende 39 und gehbehindert. Innerhalb der Wohnung kann sie sich nur
schwerfällig alleine fortbewegen, außerhalb der Wohnung ist auch sie auf einen Rollstuhl
angewiesen. Der Oma geht es von allen dreien noch am besten, jedoch merkt und sieht man ihr die
Folgen von jahrelangem Rauchen an. Immer wieder muss sie wegen ihres Herzens zum Arzt.
An den Tagen, an denen ich Roman, Ela und die Oma alleine besuche, helfe ich der Oma Roman zu
waschen. Als erstes muss Roman dafür natürlich entkleidet werden, was bei seinem unförmigen
Körper nicht einfach ist. Danach trage ich Roman in die Badewanne und später frisch gewaschen
wieder zurück aufs Sofa. Ohne Zweifel kann ich sagen, dass diese Arbeit am Anfang alles andere
als einfach für mich war. Einerseits kostete es am Anfang natürlich Überwindung den nackten
jungen mit seiner glibbrigen, unreinen Haut, der grade mal ein Jahr jünger ist als ich, zu tragen.
Andererseits ist das ganze tragetechnisch nicht einfach, da ich mit einer Hand Romans Kopf
stützen, (den er ja nicht selbst halten kann) und mit dem anderen Arm den Körper heben und tragen
muss. Da sind dann auch 35 Kilogramm wieder schwer.
Inzwischen freue ich mich jedes mal auf den „Waschtag“ in der Woche. Die Griffe sitzen und es ist
ein unbeschreiblich schönes Gefühl den kleinen Jungen, der eigentlich so gut wie nie etwas sagt,
lachend in der Wanne sitzen zu sehen.
Der zweite Wochenbesuch dient einem langen Spaziergang. Dann gehen mein deutscher
Mitfreiwilliger Juri und ich zusammen mit Roman und Ela mit Rollstühlen spazieren und sorgen
dafür, dass sie ein bisschen was anderes als die kleine Wohnung zu sehen bekommen. Dabei gibt es
zu erwähnen, dass Russland maximal behinderten- und rollstuhlunfreundlich ist. So müssen wir uns
mit den Rollstühlen oft an zugeparkten Bordsteinabsenkungen vorbei, über inzwischen vereiste
Treppen, unseren Weg suchen.

Nach den Spaziergängen oder dem Waschen sitze wir oft noch zusammen in der Küche und trinken
den wohltuenden Tee der Oma. Dabei erzählt die Oma häufig noch was aus der Vergangenheit, von
ihrer Familie etc. Dies sind im Zusammenhang mit ihrer Familie häufig sehr traurige Geschichten.
Bei Roman, Ela und der Oma bin ich mit einem nahezu unglaublichen Familienschicksal
konfrontiert. Vielleicht bin ich auch deshalb so gerne bei ihnen, weil man sofort eine unheimliche
Dankbarkeit für seine Arbeit zu spüren bekommt und merkt wie unheimlich wichtig die Arbeit ist.
An meinen Arbeitsstellen, aber natürlich auch im Privatleben bin ich immer wieder mit einer
Sprachbarriere konfrontiert. In diesem Zusammenhang habe ich in meiner Zeit hier ganz
unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Natascha, die Oma von Roman verstehe ich inzwischen
schon ziemlich gut und da sie rücksichtsvoll langsam spricht, kann ich mich mit ihr schon über
vieles unterhalten und konnte so auch schon einiges erfahren. In der Schule kommuniziere ich
natürlich nur mit den Lehrern, was dank meiner Sprachvorkenntnisse auch so einigermaßen geht.
An öffentlichen Einrichtungen (Bahnschalter, Post, Supermarkt, etc.) habe ich die Erfahrung
machen müssen, dass auf fehlende Russischkenntnisse nicht ganz so viel Rücksicht genommen wird
und erfolgreiche Kommunikation eine Herausforderung darstellen kann. Ich hoffe und denke aber,
dass dieses Problem von Zeit zu Zeit immer kleiner wird.

Wie anfangs erwähnt habe ich jetzt insgesamt ein bisschen mehr als 2 Monate Russland hinter mir,
die sowohl an den Arbeitsstellen als auch privat unheimlich ereignisreich und interessant waren.
Langsam aber sicher gewöhne ich mich an das russische Leben, die russische Seele, aber das soll
unter anderem Thema im nächsten Bericht sein. So blicke ich also weiterhin mit Spannung und
freudiger Erwartung auf die Zeit die noch vor mir liegt.

Mit lieben Grüßen aus Nischni Nowgorod
Marius Voss