Bericht: „Tage russischer Musik am Bodensee“

Bericht: „Tage russischer Musik am Bodensee“

Austausch mit unserer Partnerstadt findet nicht nur in Essen, sondern auch in anderen Teilen Deutschlands statt: Vom Bodensee erreichte uns dieser herzliche Bericht über die Konzertreise Staatlichen Russischen Volksorchester Nischni Nowgorod in den Süden der Republik. Rose Ebding war viele Jahre Deutsch-Lehrerin an der Schule Nr. 1 und oft Jurymitglied bei den Wettbewerben der Dolmetscher und Übersetzer an der Linguistischen Universität, eine alte Bekannte unserer Gesellschaft.  Ein schöne Einblick in andere deutsch-russische Aktivitäten, mit musikalischen Kostproben am Ende des textes. Vielen Dank an Rose Ebding und Hans-Joachim Preuß für den Text, allen Aktiven in Immenstaad und Nischni Nowgorod weiterhin gutes Gelingen. Viel Freude beim Lesen!

Warum sind die nicht weltberühmt? „Tage russischer Musik am Bodensee“ (17. – 21. Oktober 2019)

London, Coliseum. 1910.
In einer Vorstellung der international berühmten Tänzerin Ida Rubenstein ist ein kurzer Auftritt des Großrussischen Balalaika-Orchesters angekündigt, das auf so unbekannten Instrumenten wie Domra und Balalaika spielt. Der skeptische Regisseur des Coliseums hat den russischen Dirigenten Vladimir Andreev mit harschen und herablassenden Worten angewiesen, die vorgesehenen sechzehn Minuten keineswegs zu überschreiten. Es kommt anders. Das von der russischen Musik überwältigte Publikum verlangt eine Wiederholung, der Regisseur gibt nach und als das Orchester nach mehr als einer halben Stunde die Bühne verlässt, ist der Bann gebrochen. Die Musikkritiker der Londoner Zeitungen übertreffen sich im Lob der dreißig Musiker. Der Vertrag mit dem Volksorchester wird immer wieder verlängert: aus den ursprünglich geplanten wenigen Aufführungen werden 192. Edward VII, der englische König, lädt das Orchester zu einem Auftritt nach Schloss Windsor ein. Das Ziel des Dirigenten Andreev, die russischen Volksinstrumente bekannt zu machen, ist erreicht.

Owingen. Oktober 2019, „Tage russischer Musik am Bodensee“.
Das erste von vier Konzerten des „Staatlichen Russischen Volksorchesters Nischni Nowgorod“ mit dem Dirigenten Viktor Kusnetzov hören im großen Saal des Kulturhauses etwa 120 Leute. Zwei Tage später im Ludwig-Dürr-Saal des Graf-Zeppelin-Hauses in Friedrichshafen werden schon 160 gezählt und das trotz starker Konkurrenz durch eine Ballettkompanie aus Moskau, die mit Tschaikowskis „Dornröschen“ im gleichen Haus gastiert. Beim nächsten Konzert im Augustinum in Meersburg steigt die Zahl auf 200; hier half es, dass viele Zuhörer in der Senioren Residenz im gleichen Haus leben. Und dann schließlich sind es in der gut gefüllten Kirche St. Jodokus in Immenstaad etwa 420 Besucher, die dem letzten Konzert lauschen. Jede Aufführung hatte ihr eigenes Programm.

Nach dem Konzert im Augustinum in Meersburg am 20.Oktober 2019:
Das Staatliche Russische Volksorchester Nischni Nowgorod mit seinem Dirigenten
Viktor Kusnetzov, neben ihm der Komponist V. Porozki

Die wachsenden Besucherzahlen sind auch 2019 am Bodensee der großartigen Musikalität des Orchesters zu verdanken. Mit seiner unglaublichen Qualität und seinem Können gewann es die Herzen der Zuhörer von den ersten Tönen an. Wer Zweifel hatte, ob sich die Balalaika, die Domra oder die Gusli für klassische Musik eignen, war bald eines Besseren belehrt. Den ungarischen Tanz Nr. 1 von Brahms oder das Scherzo aus Mendelsohns Sommernachtstraum hat man so noch nie gehört. Aus der Oper „Fürst Igor“ von Borodin erklangen die Polowetzer Tänze, aus der Oper „Die verkaufte Braut“ von Smetana der Tanz der Komödianten. Viele Stücke stammten von bei uns weniger bekannten russischen Komponisten, von
älteren oder von Zeitgenossen, wie Vadim Bibergan, der vor allem Filmmusik geschaffen hat. In Meersburg war der in Deutschland lebende Komponist V. Porozki anwesend, von dem zwei Stücke aufgeführt wurden, aus der Suite die „Bluthochzeit“ von Lorca der „Der Brautkranz“ und der „Choral“, vorgetragen auf einer Bajan.

Der Reichtum an musikalischen Stimmungen, die das ungewöhnliche Orchester erzeugt und die Präzision der rhythmischen Wiedergabe sind mit Worten nicht zu beschreiben. Höhepunkte waren Auftritte von Solisten aus dem Orchester. Ob mit Gusli, Domra, Balalaika oder mit Bajan, Oboe und Saxophon, das Publikum lauschte immer atemlos den mal kraftvollen und
oft leisen Tönen, die zeigten, wie bewegend und zu Herzen gehend Musik sein kann.

Die Gusli, aufgenommen in einer Spielpause am 17. Oktober 2019 in Owingen

Der hochdekorierte Dirigent Viktor Kusnetzov sieht sein Orchester als Nachfolger des Orchesters von 1910. Auch er will die russischen Volksinstrumente bekannt machen und zeigen, dass sie den höchsten musikalischen Ansprüchen genügen können. Das russische Bajan ist ein Knopfakkordeon. Die dreieckige Balalaika kennt man bei uns noch am ehesten. Die Domra, ihre runde Vorgängerin aus dem 13. Jahrhundert ist wie diese ein lautenähnliches Saiteninstrument. Sie ist weniger bekannt, ganz zu schweigen von der Gusli, die als Tischharfe oder als eine Art Zither beschrieben werden könnte. Letzteres wollte Kusnetzov so nicht stehen lassen, denn es handele sich bei ihr um das russische National-Instrument schlechthin seit dem 12. Jahrhundert.

In der Pfarrkirche St. Jodokus in Immenstaad am Bodensee (21. Oktober 2019)

Die Geschichte dieser Konzertreise beginnt im September 2014 in Nischni Nowgorod, wo meine Frau und ich schon nach zwei Wochen ahnungslos in ein Konzert des Staatlichen Russischen Volksorchesters gerieten. Wir wussten nicht was uns erwartet, waren aber sofort ergriffen von der filigranen, perfekt dargebotenen Musik. In den drei Jahren, die wir dort lebten, besuchten wir wann immer möglich die Konzerte, es mögen fünfundzwanzig gewesen sein. Kurz vor unserer Abreise am 8. Juli 2017 nach einem Konzert im World Trade Center fasste sich meine Frau ein Herz
und fragte den Dirigenten Viktor Kusnetzov, ob er sich eine Tournee in Deutschland vorstellen könne. Zu unserer Überraschung war er nicht abgeneigt. Im Januar 2015 waren drei Ehepaare aus Immenstaad am Bodensee in Nischni Nowgorod gewesen. Sie gehören zum Katholischen Bildungswerk, dass sich seit längerem für eine Verständigung mit Russland einsetzt und russische Musiker zu Konzerten an den Bodensee einlädt. Auch sie waren vom Orchester fasziniert und angetan von der Idee, dieses in Deutschland auftreten zu lassen. Nach vielen Telefonaten, Emails und nach weiteren Gesprächen meiner Frau mit Viktor Kusnetzov bei unseren Reisen nach Nischni Nowgorod konnte schließlich die Reise an den Bodensee vereinbart und das Orchester eingeladen werden. Die vier Veranstaltungsorte wurden vom Katholischen Bildungswerk organisiert, ebenso die Ankündigungen in den lokalen Zeitungen und die Werbung durch Plakate und Handzettel.

Rose Ebding, Viktor Kusnetzov, Konrad Veeser, Hubert Lehle, Udo Daecke
Ein russischer Dirigent und vier aktive Deutsche = fünf Freunde

Die männlichen russischen Musiker fuhren mit den Instrumenten im Bus aus Nischni Nowgorod an der Wolga die 3000 km weite Strecke in die Martin- Buber-Jugendherberge Überlingen am Bodensee. Unterwegs übernachteten sie in Brest und in Dresden. Der Dirigent und die Musikerinnen kamen per Direktflug aus Moskau nach Memmingen. Das Ministerium für Kultur in Nischni Nowgorod hatte die Reisekosten, zwei Millionen Rubel (etwa 28000 €), übernommen. Der Dirigent und das Orchester spielten ohne Gage. Auf deutscher Seite waren drei der vier Säle kostenlos,  die Einnahmen aus dem Kartenverkauf und aus Spenden deckten knapp die Kosten des ganzen Festivals. Alle deutschen Veranstalter dieser „Tage russischer Musik am Bodensee“ sind sich in der Bewertung einig: dieses Orchester hätte viel mehr Zuhörer und mehr als vier Konzerte verdient. Dafür hätte aber die Organisation durch uns engagierte, idealistische Laien nicht ausgereicht. Doch welche internationale Konzertagentur wagt es in der heutigen Überfülle an Angeboten und in dem schwierigen politischen Klima ein solches Vorhaben anzugehen?
Die musikalische Botschaft der Reise kam bei den Zuhörern an. Alle Konzerte endeten mit Beifallsstürmen. Kusnetzov erhielt die volle Zustimmung, als er ausrief: „Ich will unsere Musik in eure Herzen tragen“. Ein Tontechniker sagte: „Ich habe in diesem Saal schon viele Konzerte gehört. Das war mit Abstand das beste“. Mehrere der Besucher, die das Orchester bei einem der ersten Konzerte gehört hatten, kamen zu den nächsten und brachten noch Freunde mit. Manche erzählten stolz, sie hätten alle vier Aufführungen besucht. Die erfolgreichste aller Werbemethoden, die
Mundpropaganda, klappte hervorragend. Immer wieder hörten wir Aussprüche wie „das war unglaublich“, „das Konzert hat mich glücklich gemacht“, oder „ich war zu Tränen gerührt“. Die Frage einer musikbegeisterten Frau habe ich als Titel für diesen Berichtes gewählt: „Warum sind die nicht weltberühmt?“. Noch einmal zurück in das Jahr 1910. Mannsfeld, der Sekretär des Großrussischen Balalaika-Orchesters, schreibt in seinem Bericht über den Aufenthalt in London: „Vor unserer Rückkehr wurde von der russischenglischen Handelskammer und von Botschaftsangehörigen ein Mittagessen zu Ehren Andreevs gegeben. Viele der Anwesenden sagten, dass Vasili Vasiljevitsch Andreev mit seiner Musik die Tiefe der Seele des russischen
Menschen gezeigt habe und dass die Engländer diese Seele gespürt und aufrichtig lieben gelernt hätten. Andreev habe – nach ihren Worten – ohne diplomatische Kniffe „den Stier bei den Hörnern gepackt“ und unseren jetzigen Verbündeten gezeigt, dass das russische Volk nicht der Barbar und der Wilde ist, als den es Deutschland darzustellen versucht“.

 

Zum Nachhören:

• Teil 1 des Konzertes am 9.7.2017 im World Trade Center Nischni Nowgorod,
Suite nach Motiven der Tragödie „Bluthochzeit“ von F.G. Lorca (Musik ab 5 Min 40 Sek):
https://www.youtube.com/watch?v=vXctilMKjLc

• Teil 2 des Konzertes am 9.7.2017 im World Trade Center Nischni Nowgorod:
Piazolla, S. Berio, P. Sarasate, C. Chimenes. Solisten: Michail Sokolov, Nikolaj Nasarov, Aleksjej Nemanov,
Kristina Fisch: https://youtu.be/h_Bpln9247I