Rundbrief Frida Kaußen

Unsere Frieda Frida aus Essen berichtet in diesem Rundbrief ihre Erfahrungen aus einem halben Jahr in Nischni Nowgorod; viel Freude beim Lesen dieser Eindrücke:

Beinahe die Hälfte meines Jahres hier in Russland ist bereits vergangen und so wird es jetzt auch
langsam Zeit für meinen Rundbrief. Dieser wird sich mit Russland beschäftigen, dem Land, den Leuten, der Mentalität und Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu Deutschland, die ich immer wieder feststellen konnte.
Zum Einstieg werde ich noch einmal kurz erzählen, was ich hier eigentlich mache und warum ich
diesen Rundbrief schreibe. Im September des vergangen Jahres begann mein Freiwilliger
Friedensdienst, kurz FFD, in Nischni Nowgorod. Im Rahmen dieses Projekts arbeite ich nun für ein
Jahr in einem Krankenhaus, betreue Invaliden und versuche, mich in diesem neuen Leben
zurechtzufinden. Wer mehr dazu wissen möchte, kann sich gerne nochmal meinen ersten Rundbrief
dazu durchlesen.
Bevor ich nach Russland kam oder mich auch nur näher mit diesem Land beschäftigt hatte, hatte ich
ein gewisses Bild von den Russen und ihrem Mutterland in meiner Vorstellung, welches sich
natürlich zum größten Teil aus gängigen Klischees und Vorurteilen zusammensetzte, mit denen man
als Deutscher oder einfach als Nicht-Russe eben immer wieder konfrontiert wird.
Welche das sind kann sich sicher jeder selbst zusammenreimen: die Russen sind den ganzen Tag am
Wodka trinken, leben im kältesten Sibirien, die Männer sind stark wie Bären und die Frauen die
schönsten auf der ganzen Welt, sie lieben Putin, hassen alles Westliche und sind ein unwirsches
Volk voller Kommunisten, die sich den Untergang der westlichen Welt herbeisehnen (Achtung:
Übertreibung!).
Dass diese Bilder zumeist in der Zeit des kalten Krieges und bereits vorher in den beiden
Weltkriegen aufgekommen sind, um das Feindbild Russland zu bekräftigen und die Angst vor dem
„bösen“ Russen zu schüren, ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum wir auch heute noch so von
den Russen denken. Ich glaube auch, dass sich manche Russen mit diesem Bild von sich gar nicht
mal so unwohl fühlen. Dass Putin sich ganz bewusst mit nackten Oberkörper auf Pferden reitend
und mit Waffen ablichten lässt, um das Bild des starken, wilden Russen zu demonstrieren, zeigt dies
einmal mehr.
Doch natürlich können ein Präsident, der sein Volk möglichst kraftvoll in der Welt in Szene setzen
möchte, um seine in Wahrheit doch immer mehr schwindende Macht zu verschleiern, und
diejenigen, die ihm dabei zujubeln, nicht ein ganzes Volk repräsentieren.
Das habe ich hier auch sehr deutlich gemerkt. Es gibt in meinen Augen deutlich mehr, vor allem
junge Russen, die nicht mit diesem Stempel leben wollen, den ihnen die westliche Welt schon vor
Jahrzehnten aufgedrückt hat in einer Welt, die heute nicht mehr existiert.
Die jungen Russen, die ich bis jetzt hier kennengelernt habe, unterscheiden sich nicht groß von
jungen Deutschen oder Europäern. Sie studieren, reisen ins Ausland, sind weltoffen und
hinterfragen, was in Russland und der Welt passiert.
Auch unter ihnen gibt es Unterschiede, sei es im Glauben, der politischen Einstellung oder ihrer
Herkunft, doch eines haben sie alle gemeinsam: sie erfüllen nicht das Klischees vom typischen
Russen.
Dazu muss ich noch sagen, dass ich auch fast nur diesen Typ junger Russe kennengelernt habe;
diejenigen, denen die Welt offensteht und die Perspektiven haben. Das liegt nicht daran, dass es nur
diesen Typen gibt, sondern vielmehr daran, dass ich mich privat fast nur in solchen Kreisen bewege
und man dadurch auch nur neue Leute kennenlernt, die sich nicht groß von den anderen
unterscheiden.
Ich weiß, dass es genug Russen gibt, die schon in jungem Alter keine Perspektive mehr sehen und die sich deutlich von uns „gebildeten und weltoffenen“ Europäern unterscheiden, genauso wie in
jedem anderen Land auch; doch mit diesen Menschen hatte ich bis jetzt so gut wie keinen Kontakt.
Das ganze ändert sich jedoch, wenn man sich in den älteren Generationen umschaut, denen, die
noch die Sowjetunion miterlebt haben und für die Putin der Erretter ist, der Russland wieder stark
gemacht hat.
Kontakt zu älteren Personen habe ich vor allem bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Die
Erwachsenen dort kann man in zwei Gruppen einteilen. Zum einen das Krankenhauspersonal
bestehend aus Schwestern und Ärzten und den Patienten, welche in den Einzelzimmern
untergebracht sind und folglich auch mehr Geld und Einfluss haben, und zum anderen die älteren
Patienten auf den anderen Mehrbettzimmern.
Ich habe mich immer wieder mit allen Leuten unterhalten und mit der Zeit habe ich ein gewisses
Muster in Einstellungen gegenüber Russland mir als Deutsche erkannt. Natürlich gibt es auch da
Ausnahmen, aber allgemein habe ich doch folgendes feststellen können.
Die „einfachen“ Patienten, die sich kein Einzelzimmer leisten können, gehören meist der älteren
Arbeitergeneration an, die fast ihr gesamtes Leben in der Sowjetunion gelebt haben und nicht viel
hatten.
Vor Putin haben viele von ihnen im Ausland gearbeitet, da es in den zerfallenen Resten der
Sowjetunion nur wenig Arbeit gab, und so kamen doch eine ganze Menge von ihnen nach Europa
und auch nach Deutschland und arbeiteten dort für ein paar Jahre zumeist in körperlich
anstrengenden Jobs, bis sie genug Geld hatten, um in Russland ein verhältnismäßig lebenswertes
Leben führen zu können. Denn sie alle wollten in Russland bleiben und dort leben.
Doch sie nahmen meist ein positives Bild von Deutschland mit nach Hause, einem Land, das sie für
ihre harte Arbeit angemessen belohnt hat.
Dann kam irgendwann Putin an die Macht und schuf Arbeitsplätze für sie, so dass sie nun nicht
mehr im Ausland arbeiten mussten. Diese Begeisterung für Putin hat oft bis heute angehalten, wenn
auch etwas abgenommen. Trotzdem stehen sie meist hinter der Politik des Kremls, wie der
Annektierung der Krim oder der Ablehnung von Flüchtlingen.
Auf der anderen Seite sind die Akademiker; diejenigen, die studiert haben und jetzt als Arzt arbeiten
oder sich eben ein schickes Einzelzimmer leisten können. Sie haben von Putin am meisten profitiert
und wissen das auch meist zu schätzen, sehen ihn manchmal aber auch kritischer und stehen nicht
voll hinter seiner Politik. So habe ich miterlebt, wie mir jemand erzählte, dass er Merkels Haltung
in der Flüchtlingspolitik gut findet. Das hört sich jetzt nicht spektakulär an, aber da ich sonst nur
mit ablehnender Haltung gegenüber Flüchtlingen und Merkel konfrontiert wurde (das war meist
eines der ersten Themen, die angesprochen wurden, wenn ich erzählte, dass ich Deutsche bin), einer
Meinung, die der Kreml auch so hält, ist mir das doch stark aufgefallen.
Das sind jedoch auch alles nur Eindrücke meinerseits, Meinungen, die ich anhand der wenig
gewechselten Worte herausgefiltert habe, die man als Personal eben mit den Patienten wechselt. Mit
den meisten Patienten habe ich zum Beispiel kein einziges Wort über Politik verloren, daher bin ich
mir nicht sicher, wie sehr ich meinem eigenen Bild vertrauen kann und sehe es selbst auch kritisch.
Hoffentlich kann ich es mit der Zeit noch klarer erkennen und differenzieren.
Soviel zum Thema Vorurteile und Einstellung der Bevölkerung zur Politik des Kremls. Ich würde
gerne noch mehr darüber schreiben, da ich dieses Thema super spannend finde und durch dessen
Brief auch viel darüber nachgedacht habe, aber ich denke, dass ich einfach noch nicht die
Berechtigung habe, darüber irgendwelche Fakten zu verbreiten, die eventuell doch mehr alternativ
als wahr sind.

Doch Russland und mein Leben hier besteht ja zum Glück nicht nur aus Politik und Vorurteilen, und
so möchte ich mich nun der russischen Mentalität widmen, einer Sache, die ich hier wirklich zu
lieben gelernt habe. Nicht, weil ich so lange gebraucht habe um mich daran zu gewöhnen, sondern
weil sie mich von Anfang an begeistert hat und ich mir ein bisschen davon auch für Deutschland
wünschen würde.
Bereits im Mai, als ich das erste Mal nach Russland kam um für eine Woche mein Projekt und die
Stadt kennenzulernen, konnte ich mir ein erstes Bild von den Russen und ihrer Gastfreundschaft
machen.
In der Zeit lebte ich privat bei Freunden unserer Organisation, einem älteren Ehepaar, die mich
sofort herzlich aufnahmen und mich trotz meiner damals noch fehlenden Russischkenntnisse mit
einer liebevollen Art behandelten, die ich so erst selten erlebt hatte.
Diese Art der russischen Gastfreundschaft habe ich auch seit ich hier lebe immer wieder erleben
dürfen. Jedes Mal, wenn wir über unsere Organisation bei fremden Leuten zum Essen eingeladen
wurden, wurden wir behandelt wie enge Freunde, die man schon seit Jahren kennt, ganz anders als
ich es in Deutschland gewohnt war, wo man sich neuen Leuten gegenüber deutlich reservierter
verhält.
Bei Tisch wird hier sich seltener über unwichtiges Zeug unterhalten, auch sonst ist Smalltalk in
Russland nicht so weit verbreitet und beliebt wie bei uns in Deutschland. Das kann auch sicher an
dem Alkohol liegen, der zu einer guten Konversation bei Tisch einfach dazugehört, aber nicht nur.
Es ist einfach die russische Art, sich für dich und dein Leben zu interessieren und die Zeit nicht mit
unwichtigem Geplauder zu verschwenden.
Auch wenn die Russen auf den ersten Blick manchmal doch etwas mürrisch und kalt wirken, sobald
diese Schale erst einmal geknackt ist – und das geht viel leichter als in Deutschland, meistens reicht
ein gelungener Trinkspruch oder einfach ein ehrliches Interesse am Gegenüber -, sind sie in meinen
Augen eines der herzlichsten Völker dieser Erde, deren Wärme und Herzlichkeit ich nicht mehr
missen möchte.
Woher genau diese Mentalität kommt, kann ich nicht genau sagen, vielleicht liegt es an der
Geschichte Russlands, einem Volk, das lange Zeit unter den Einschränkungen in der Sowjetunion
gelitten hat, oder vielleicht auch am Glauben.
Die größte Religion in Russland ist der russich-orthodoxe Glaube. Je nach Quelle bekennen sich
zwischen 60 und 75% der Russen zum orthodoxen Glauben, dementsprechend ist auch der Einfluss
der Kirche nicht gerade klein. Nach dem Fall der Sowjetunion und einer Ära, in der die Religion
verachtet war, traten in den letzten Jahren immer mehr Russen wieder in die Kirche ein und neue
Gotteshäuser wurden errichtet. Auch der Kreml zeigt sich versöhnlich und Putin versucht immer
wieder, medienwirksam eine gute Beziehung zum Glauben zu demonstrieren.
Wie wichtig der Glaube hier ist, vor allem in der älteren Generation, konnte ich hier immer wieder
beobachten. Viele der Schwestern und Patienten im Krankenhaus tragen ein Kreuz um den Hals und
in jedem Zimmer kann man in der Ecke eine oder mehrere Ikonen finden.
Das beeindruckendste, was ich mit dem orthodoxen Glauben verbinde, ist die Tradition des
Eisbadens an Jesus Tauftag. Um Mitternacht strömen die Gläubigen zu Flüssen und Seen, um bei
Temperaturen weit unter null Grad dreimal ins Eiswasser zu tauchen und sich so von ihren Sünden
reinzuwaschen. Auch ich habe an dieser Tradition teilgenommen und es war mit Sicherheit eines
der außergewöhnlichsten Erlebnisse, die ich hier machen durfte.
Insgesamt kann ich sagen, dass sich die russische Kultur doch mehr von der deutschen
unterscheidet, als ich es erwartet hatte; aber das macht mir nichts aus, im Gegenteil. Ich habe mich
schon so an mein neues Leben hier gewöhnt, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, einfach so wieder nach Deutschland zu kommen, ohne eine Veränderung zu spüren. Doch das liegt noch in
weiter Ferne und ich bin gespannt, was ich in meinem letzten halben Jahr hier noch erleben und für
mein weiteres Leben mitnehmen werde.