FSJ-Rundbriefe aus Nishnij Nowgorod

 Jan-Philipp

Hallo alle miteinander!!

Ich lebe momentan in Nischni Novgorod (Russland) und bestreite hier meinen freiwilligen Friedensdienst und werde in aller Kürze über meine Einsatzorte und Aufgaben berichten.
Zu meiner Person sei ganz kurz gesagt, dass ich Jan-Philipp heiße, 19 Jahre alt bin und vor Antritt meines Freiwilligendienstes die Schule abgeschlossen habe. Nun bin ich also hier und schreibe nach langem Aufschieben meinen Rundbrief.
Ich arbeite in einer Schule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Zuerst dachte ich, dass es in Russland super hart wird in eine Schule zu gehen, in welcher die Leute nicht wirklich aufgeklärt sind, was den Umgang mit autistischen Kindern oder welchen, die vom Down-Syndrom betroffen sind, angeht.
ABER, da habe ich komplett falsch gedacht!!
Die Schule hat mich bis hierhin, abgesehen von ein paar Ausnahmen wirklich überzeugt. Die Herangehensweise an die Kinder ähnelt, soweit ich das beurteilen kann, doch sehr der unseren in Deutschland, was für mich durchaus ein gutes Zeichen ist.
Meine Aufgaben bestehen im Grunde daraus, meiner Lehrerin, so gut es eben geht, im Unterricht unter die Arme zu greifen. Ich arbeite in der zweiten Klasse. Es gibt einen Lehrplan, der sein Hauptaugenmerk darauf zu legen scheint, den Kindern einerseits das Rechnen mit Zahlen von 1-10 und das Schreiben von ersten Wörtern beizubringen, andererseits aber auch ihre Selbständigkeit zu fördern. Heißt also, dass die Kinder bestimmte Alltagsabläufe erlernen und ohne groß darüber nachzudenken auch anwenden können.
Ich kümmere mich im Grunde meistens nur um einen Jungen. Er heißt Nikita und hat sowohl das Asberger- wie auch das Down-Syndrom, soweit ich das am Anfang mit meinen Russischkenntnissen richtig verstanden habe.
Ich helfe ihm bei seinen Aufgaben und versuche seine Wutausbrüche im Keim zu ersticken. Die sind nämlich ein großes Problem. Nikita kann nämlich eigentlich alle Aufgaben ziemlich locker lösen, doch hält sich kaum 2 Minuten an die Regeln. Das bedeutet eigentlich puren Stress für mich, aber ich komme immer besser mit ihm zurecht.
Er, so glaube ich zumindest, kommt auch immer besser mit mir zurecht. Das sagen mir zumindest seine „Ich liebe dich Philipp!“.
Das wäre es zu meiner Schule erstmal.
Ich habe aber auch noch eine andere Arbeitsstelle. Neben der offiziellen Arbeitsstelle kümmere ich mich auch noch um zwei Invaliden. Einmal um Mischa, einen 54 Jährigen Mann, welcher sich nicht mehr wirklich bewegen kann und mit dem ich um die Häuser ziehe. Heißt, ich schiebe ihn mit seinem Rollstuhl durch die Gegend. Wir gehen in die Kirche, er zeigt mir schöne Plätze und wir unterhalten uns meistens ganz gut.
Der andere Invalide um den ich mich kümmere ist Roman, ein 14 jähriger Junge, der sich kaum bewegen und den ganzen Tag nur auf dem Sofa sitzen kann.
Das Problem hier in Russland ist allerdings noch, dass viele Häuser keinen Aufzug haben bzw. einen haben, aber der nur bis zur 1. Etage geht. Das bedeutet also, dass ich Mischa, der ungefähr 90 Kg wiegt, ein Stock runterwuchten muss, bevor wir auf der Straße sind.
Bei Roman schien es leichter zu sein, aber er wohnt im obersten Stock und ich darf ihn nicht im Rollstuhl hinuntertragen, sondern muss erst den Rollstuhl hinunterbringen und danach Roman runtertragen.
Auch mit der Familie von ihm verstehe ich mich super.
Das war also mein kurzes Update aus Russland.
Liebe Grüße
Jan-Philipp

 

Jessica

Ich bin jetzt schon seit etwa 3 Monaten in Nizhni Novgorod, einer schönen und großen Stadt in Russland.
Nachdem wir anfangs Schwierigkeiten hatten, uns mit dem etwas „anderen“ Stadtbild anzufreunden, finden wir die Stadt jetzt doch ziemlich schön und haben einige Ecken gefunden, in denen wir uns gerne aufhalten. Auch Freunde haben wir schon einige gefunden.
Aber das Thema des ersten Rundbriefs soll nicht unser – oder vielmehr mein – soziales Leben hier sein, sondern meine Arbeit und die Menschen, denen ich dort begegne.
Meine Arbeitssituation war in den ersten Wochen etwas kompliziert, da es sehr schwer war Kontakt zum Waisenhaus aufzunehmen.
Anfangs sollte ich nur dort arbeiten und zusätzlich mit einigen Invaliden spazieren gehen, einkaufen, etc.
Weil aber das Waisenhaus sich nicht bei mir gemeldet hat und auf meine Anrufe nur seltsam reagiert wurde, wurde mir eine neue Arbeit gesucht: im Kindergarten.
Allerdings braucht das Waisenhaus mich jetzt doch.
Deshalb sieht es jetzt so aus, dass ich von Montag bis Freitag im Kindergarten bin, in einer Gruppe mit Kindern von 1-3 Jahren.
Und mittwochs und freitags gehe ich ins Waisenhaus, um dort einigen Kindern Nachhilfe in Mathe, Deutsch und Englisch zu geben.
Die Arbeit im Kindergarten gefällt mir sehr, auch wenn ich manchmal nichts zu tun habe, weil Kinder sich ja gut selbst beschäftigen können. Aber wenn ich dann mal helfen kann, beim Essen oder beim Anziehen der Kinder, macht es mir sehr viel Spaß und irgendwie merke ich gerade, dass Kinder ja doch toll sind, haha.
Im Waisenhaus ist es dagegen etwas schwieriger. Die Organisation dort gefällt mir nicht immer so gut, weil es vor kommt, dass ich hin fahre (eine Stunde Fahrt von unserer Wohnung aus) und dann erstmal eine halbe Stunde warten muss, bis die Kinder da sind oder man einfach vergessen hat, dass ich komme.
An sich ist es schön, dass ich dort etwas tun kann – auch weil man dort ja etwas bewirken kann, den Kindern wirklich helfen kann.
Andererseits.. naja, schwer. Kinder im Waisenhaus sind ja nochmal eine Nummer für sich.
Meine andere Arbeit besteht darin, mich um Invaliden zu kümmern.
Da habe ich 2-3 Menschen, die teils meine Hilfe brauchen und teils nur so tun.
Mit Ira, einer 42-jährigen Frau gehe ich jeden Mittwoch nach dem Waisenhaus “spazieren”. Das heißt eigentlich geht sie shoppen und verprasst ihre Rente und kauft sich jedes Mal Tonnen an unnötigem Zeug. Dazu ist sie ziemlich manipulativ und versucht mich mit Geschenken zu bestechen, sodass ich öfter und länger mit ihr “spazieren” gehe. Letztens hat sie mir 200 Rubel geboten, damit ich noch eine Stunde länger bleibe… 4 Euro.
Das Problem bei Ira ist, dass sie selten fertig ist, wenn ich zu ihr komme. Dann braucht sie eine Stunde um sich fertig zu machen und das geht natürlich alles von der Zeit ab.
Zum Beispiel machen wir aus, dass ich um 16 Uhr zu ihr komme und zwei Stunden bleibe. Fertig ist sie dann um 17 Uhr und sieht dann nicht ein, dass ich nur zwei Stunden Zeit habe. Dann fängt sie fast an zu weinen und sagt, dass sie nur ein Mal die Woche aus dem Haus kommt und das dann, wenn ich zu ihr komme.
Meine anderen Invaliden hingegen sind aber super!
Und zwar kümmern Jan-Philipp (einer meiner Mitbewohner) und ich uns um eine kleine Familie, bestehend aus: Natasha (eine ältere Frau), Ela (ihre Tochter) und Roman (ihr Enkel – sein Vater ist gestorben und seine Mutter verschollen, deswegen kümmert sich die Oma um ihn).
Zusammen sind sie eine sehr nette, witzige, aber irgendwie auch grob-humorige Familie, bei der es nie langweilig wird!
Wir reden viel mit ihnen, lernen viele Schimpfwörter, trinken viel Tee und Jan-Philipp wird immer gezwungen etwas zu essen – ich kann ja nicht, weil ich Veganerin bin. Dafür muss er umso mehr essen, haha.
Sie nehmen es mir oft übel, dass ich keine Süßigkeiten zum Tee esse oder keine Suppe, aber ich denke.. langsam gewöhnen sie sich dran! Auch wenn die Oma mir jetzt gestanden hat, dass es ihr ziemlich unangenehm ist, dass sie mir nichts anbieten kann. Dabei sollte ich ja eigentlich diejenige sein, der es unangenehm ist, dass ich nichts von dem annehmen kann, was sie mir anbietet – zumindest geht es mir in Deutschland so.
Meine Aufgaben hier sehen so aus, dass ich hin und wieder vorbei komme, um der Oma zu helfen Roman in die Badewanne zu hieven und freitags gehen Jan-Philipp und ich zusammen hin und entweder geht er mit Roman raus (das kann nur ein Junge, laut deren Auffassung), muss dann erst den Rollstuhl runter bringen und anschließend Roman herunter tragen ODER ich gehe mit Ela raus. Dann muss Jan-Philipp trotzdem mitkommen, weil er den Rollstuhl runter tragen muss und mir helfen muss Ela (auf dem Rollstuhl) Treppen herunter zu bringen.
Allerdings kann sie – zwar beschwerlich, aber dennoch beachtlich gut – Treppen hinunter gehen. Aber klar, wenn sie dann schon mal im Rollstuhl sitzt, kommt sie auch schwer wieder raus und dann ist es einfacher, sie mitsamt Rollstuhl hinunter zu rollen.
Bei dieser Familie bin ich sehr gerne, weil sie witzig ist und herzlich und auch nicht zu viel verlangen – im Gegenteil! Ich muss sogar manchmal noch sagen, dass ich gerne öfter vorbei kommen kann, wenn sie bei irgendeiner Sache Hilfe brauchen.
Es ist auf jeden Fall eine interessante Arbeit und es ist sehr interessant zu sehen, wie unterschiedlich manche Menschen mit ihrem Schicksal umgehen und was es auch für Auswirkungen auf ihre Psyche hat.
Zum Beispiel ist Ira ein schlechterer Mensch geworden durch ihre Krankheit. Sie ist egoistisch und selbstsüchtig, egozentrisch, misstrauisch, manipulativ und gemein – auch wenn sie gute Seiten hat, die ich an ihr mag, sind das die Eigenschaften, die leider überwiegen.
Roman und Ela hingegen sind fröhliche und glückliche Menschen. Vor allem Ela lacht sehr viel und reißt gerne Witze und kann auch über sich selbst und ihre Behinderung lachen, was sie zu einem sehr zugänglichen und einfachen Menschen macht, mit dem man gerne redet oder etwas unternimmt.
Ich freue mich sogar jedes Mal, wenn ich zu ihnen gehe, weil es sehr fröhlich zugeht, bei ihnen Zuhause!
Bei ihnen macht es mir Spaß und ich schlage gerne vor, dass wir noch mehr für sie machen können, weil von ihnen auch etwas zurück kommt. Sie sind sehr dankbar und freuen sich, dass sie uns Freiwillige haben.
Sie versuchen viele Dinge noch selbstständig zu machen, auch wenn es ihnen schwerfällt, aber auch das macht sie so sympathisch, denn es gibt auch die Sorte Mensch, die dann alle Verantwortung auf den Freiwilligen überträgt und ihn quasi ausnutzt.
Ich bin gespannt, wie sich meine Arbeit hier noch entwickeln wird, was noch dazu kommen und was wegfallen wird.
Zum Beispiel würde ich auch gerne mehr im Waisenhaus machen, was sich gut trifft, weil es dort ein neues Mädchen gibt, das noch nicht zur Schule geht und mit der man einige Grundlagen lernen kann und die man ein wenig auf die Schule vorbereiten kann. Das klang ziemlich interessant für mich, als die Leiterin des Waisenhauses mir davon erzählte, allerdings weiß ich nicht, wie ich zu dem Kind kommen soll, weil man mir weder gesagt hat wie ihr Name lautet, noch in welcher Gruppe sie ist.
Also mal sehen, ich bin gespannt!

 

Joelina

Mein Anfang

Ich lebe jetzt seit fast 3 Monaten in Nishni Nowgorod, Russland.
Der Abschied von zu Hause fiel unglaublich schwer und von heute auf morgen sah mein Leben komplett anders aus. Am 1. September reisten wir an – wir, das sind meine Mitfreiwilligen und ich. Von da an verbrachte ich keine Minute mehr alleine. Jessica und ich teilen uns ein Zimmer, die anderen beiden auch. Von uns allen hat noch nie jemand alleine gelebt und das sieht man am Zustand in unserer Wohnung deutlich. Der sowjetische Touch lässt sie zwar gemütlicher aussehen, tut aber sein Übriges um uns das Ordnung halten zu erschweren. Aber man gewöhnt sich dran und muss seine Ansprüche von zu Hause einfach etwas herunterschrauben.
Der Start in meiner Arbeitsstelle lief wirklich nahezu reibungslos ab. Wir erschienen dank kurzem und einfachen Arbeitsweg pünktlich zu unserem ersten Tag – ich teile mir die Arbeitsstelle mit Jan-Philipp (auch aus der WG) und wurden eingewiesen. Eingewiesen bedeutet, dass die Direktorin uns unsere Arbeitszeiten mitteilte – Jan-Philipp musste dolmetschen, so wenig habe ich damals tatsächlich erst verstanden – und dann auf unsere jeweiligen Lehrerinnen warteten. Meine erschien irgendwann mit einem kleinen Jungen an der Hand und bedeutete mir, mit in ihre Klasse zu kommen. Die ist sehr verspielt und freundlich eingerichtet. Es gibt vier Plätze, eine Tafel, wie in jedem anderen Klassenraum, dann aber noch viel Platz zum Spielen und noch viel mehr Spielzeuge selbst. Im Laufe des Tages lernte ich dann alle Kinder kennen, warum das erst nach und nach kam, begriff ich auch erst später – man bedenke meine fehlenden Russisch-Kenntnisse. Meine Lehrerin hat tatsächlich zwei Klassen. Einmal die 1D – der Buchstabe steht für den Grad der Behinderung, D ist die „schwächste“ Klasse, die Kinder aus der A-Klasse sind nur leicht bis gar nicht lernbehindert – und die 2D. In der 1D sind 3 Kinder, Ljoscha, Dascha und Mischa.
Über die Behinderungen der Kinder kann ich leider nur wenig sagen. Die Lehrerinnen handeln es wie ein Geheimnis und vor den Kindern darüber zu reden ist ohnehin tabu. Bei vielen scheint es auch so, als würden mehrere Behinderungen zusammen kommen, bei anderen wiederum erkennt man auf den erste Blick keine wirklichen Defizite.
Fast allen meinen Kindern ist die Behinderung auf den ersten Blick nicht anzusehen, es ist niemand gehbehindert oder sonst körperlich eingeschränkt. Der extremste Fall in meiner Klasse ist Ljoscha, ich maße es mir zwar nicht an, ihm eine Behinderung zu diagnostizieren, aber er weist sowohl die Eigenschaften eines Autisten als auch eines Kindes mit Down-Syndrom auf. Er hat mandelförmige Augen und verzerrte Gesichtszüge. Ausserdem sind seine Hände und Füße immer angespannt und bis zum äußersten verbogen. Er kann nicht sprechen, aber Laute von sich geben, vor allem, wenn ihn etwas sauer macht. Er wird schnell wütend und ist dann manchmal nicht mehr zu halten und schmeißt mit Gegenständen um sich. Manchmal sitzt er aber auch alleine da und lacht ohne ersichtlichen Grund vor sich hin. Auf die anderen Kinder scheint er nicht zu reagieren, er scheint sie zu mancher Zeit kaum wahrzunehmen, wann anders haut er sie oder umarmt sie. Das Essen fällt ihm schwer, dabei braucht er immer Hilfe. Man muss es ihm fast aufdrängen; von selbst scheint er keinen Appetit zu haben oder es zumindest nicht ausdrücken zu können. Mit ihm – aber auch mit den anderen Kindern – unternehmen wir methodische Übungen. Spielerisch sollen die Kinder Zahlen, Buchstaben, Formen und vieles andere lernen.
Der Stundenplan unterscheidet sich kaum von dem einer Regelschule. Die Kinder treffen ab halb 9 ein, um 9 gibt es Frühstück in einem extra Essraum. Meistens irgendeine Art von Kascha, das ist Brei und den in sämtlichen Variationen. Ich esse meistens sogar auch mit. Zu Anfang wollte ich gar nicht ran und jetzt esse ich manchmal sogar noch den Rest eines der Kinder auf. Darauf folgt Mathematik-Unterricht, Russisch, Musik, Kunst und Sport. Alles ganz gewöhnlich. Aber ganz so einfach darf man es sich dann doch nicht vorstellen. Der Russisch-Unterricht beinhaltet meistens das gemeinsame Blättern in einem Buch voller 3D -Buchstaben, die wir zuvor mit Knete gebastelt haben. Dann wiederhole ich oder die Lehrerin immer wieder den einen Buchstaben, während das Kind ihn mit den Fingern nachfühlen soll. Einige wenige Buchstaben sind dabei auch schon das ein oder andere mal einem Kind entwichen. Zumeist Vokale wie A oder U, wobei ich mich dann doch frage, ob das denn jetzt nicht eher Zufall war. Wobei die Kindern alle Buchstaben zu erkennen scheinen. Im Klassenraum hängt ein elektronisches Alphabet, das ,,spricht“ den Buchstaben aus, wenn du auf den entsprechenden Knopf drückst. Dabei gibt es auch eine Art Spiel – das Gerät nennt einen Buchstaben und das Kind soll ihn finden und drücken. Das klappt immer! Manchmal waren die Kinder schon schneller als ich beim Finden der Buchstaben. Warum das so unterschiedlich ist, darauf kann ich mir keinen Reim machen. Beim Mathematik-Unterricht stecken wir immer noch beim Lernen der Ziffer 1 fest. Jeden Morgen sollen die Kinder erkennen, dass es zwar VIELE Stühle, Tische und Bilder im Klassenraum gibt, aber nur EINEN Teppich, nur EINE Tür und so weiter. Das läuft eher schleppend. Wie auch beim Lernen der Buchstaben wird allgemein viel Wert auf das Austesten des Sinnesorgans Fühlen gelegt. Jeden Morgen gibt es ein Ritual, bei dem die Kinder ihre Hände über eine raue Matte streichen müssen und mit einem genoppten Ball spielen sollen. „Massage“ wird diese Methode genannt. Das dient dazu, um ihre motorischen Fähigkeiten zu schulen. In der Schule stehen viele Spielzeuge zur Verfügung, um dem Kind spielerisch etwas beizubringen. Sei es nur das auffädeln von Perlen auf eine Schnur, das sortieren von großen und kleinen Knöpfen in unterschiedliche Behältnisse oder das Sortieren von unterschiedlich-farbigen Dingen in entsprechend farbige Gefäße. Mir gefällt die Gestaltung der Räume und die Dekoration in der Schule wirklich sehr. Alles ist farbenfroh und vieles selbstgebastelt und kein Raum gleicht dem anderen.
Mittlerweile hat es sich ergeben, dass ich immer bei der selben Klasse bin, der 2D, die begleite ich dann den ganzen Tag, machen mit den Kindern Übungen, spiele mit ihnen und bringe sie zu anderen Räumen.
Ich kann wirklich sagen, dass mir die Arbeit gefällt und ich mich gut eingegliedert habe und der Lehrerin eine wichtige Hilfe bin. Die Kinder habe ich auch sehr in mein Herz geschlossen und freue mich morgens schon auf sie.

Annika Niemer,
Projekt : Kindergarten Nishny Nowgorod, Russland

Mein Freiwilliger Friedensdienst hat nun vor fast 3 Monaten begonnen und der Winter kam hier in Nishny Nowgorod, Russland fast zeitgleich mit mir an. Die Zeit verfliegt schnell, wenn man Spaß hat und den haben wir hier in unserer kleinen vierer Wohngemeinschaft. So war es also wirklich ein Schock das jetzt schon der Dezember hereinbricht.
Die Arbeit im Kindergarten in Russland, ist wahrscheinlich nicht das, was einem sofort bei dem Begriff Friedensdienst einfällt. Trotzdem gehört er dazu und ist ebenso wichtig, wie zum Beispiel das Aufforsten des Regenwaldes in Peru. Und gerade in Zeiten wie diesen ist es besonders wichtig den Menschen zu zeigen und zu erkennen dass wir alle eins sind.
Ich gehe 5 Mal die Woche in den Kindergarten und zusätzlich an 2 Nachmittagen zu meinen Invaliden. Mein Invalide Sasha zum Beispiel, sitzt im Rollstuhl, wohnt in der 2. Etage und kann ohne Hilfe das Haus nicht verlassen. Da er alleine wohnt braucht er mich wirklich. Wir gehen zusammen Einkaufen, zu Hockey Spielen oder einfach auch nur mal so Spazieren.
Die Arbeit im Kindergarten macht mir sehr viel Spaß. Jeden Tag kommen die Kinder fröhlich und gut gelaunt an und ganz egal was für ein Morgenmuffel man auch sein mag, sie schaffen es einfach immer wieder einem ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Die Erziehungsmethoden in Russland und Deutschland sind doch sehr verschieden. Wo man in Deutschland versucht Spaß und Selbstentfaltung zu ermöglichen, werden die Kinder in Russland schon auf das harte Leben vorbereitet. So wird jeden Tag bei jeder Gelegenheit etwas gelernt und Leistung abgefragt, wie zum Beispiel akkurat Kneten, Malen oder auswendig lernen. Wer die geforderten Aufgaben nicht ausführen kann, muss es so lange Versuchen bis es letztendlich doch klappt. Dabei sitze ich mit einer unendlichen Geduld neben meinen Schützlingen und werde anschließend immer mit einem riesen Strahlen und einer Umarmung belohnt wenn die kleinen es letztendlich mit meiner Hilfe doch schaffen. Meine Kinder müssen sich selbstständig komplett an und ausziehen können und beim Essen herscht Totenstille. Auch wer weint wird weder auf den Arm genommen noch getröstet sondern kommt auf den Stuhl in der Ecke. Ich kann es mir fast nie verkneifen die kleinen trotzdem auf den Arm zu nehmen und zu trösten bist alle Tränen getrocknet sind. Im Übrigen betreue ich die Gruppe der 3 bis 4 Jährigen. Das alles hört sich jetzt viel schlimmer an als es in Wirklichkeit ist, bei einer Gruppe von 35 Kindern, 1 Erzieherin und mir sind strenge Regeln vielleicht nicht das schlechteste.
Mit das schwerste bei der Arbeit, ist wirklich alle Kinder gleich zu behandeln. Ich weiß noch wie oft ich oft ich mich früher über Ungerechtigkeiten in der Schule beschwert habe und eben deswegen Versuche ich das besser hinzubekommen. Trotzdem komme ich nicht drum herum zuzugeben, dass auch ich ein Lieblingskind habe. Sein Name ist Leonid oder in der Kurzform Ljona. Ljona hat braune Haare, haselnussbraune Augen und ein herzerwärmendes Lächeln, dem man einfach nicht böse werden kann. So habe ich zum Beispiel eine ganze Zeit lang versucht ihm, wenn ich das Mittagessen ausgeteilt habe, die leckersten Stückchen herauszusuchen, denn Ljona isst schlecht. So sitze ich jeden Tag beim Mittagessen neben ihm und muss ihn zu jedem weiteren Happen überreden. Erst vor kurzem hat mich unsere Erzieherin darauf Aufmerksam gemacht, ich könnte mir die Mühe sparen ihm immer einen besonders leckeren Teller nach seinem Geschmack herzurichten, denn mein Ljona schmeckt nichts. Er hat überhaupt keine Geschmacksnerven. Und gerade deswegen mache ich weiter, denn ich finde wenigstens das Auge sollte an dem Essen dann Geschmack finden können.
Zu meinen Aufgaben gehört es unter anderem die Tische zu decken, das Essen auszuteilen (2 Gänge), die Tische wieder abzuräumen und hinterher natürlich auch sauber zu machen. Mittlerweile wollen mir immer mehr Kinder beim Abräumen helfen, kleine Taten, die mir zeigen das die kleinen mich gerne haben. Letztens erst hat meine kleine Dasha mir erklärt warum ich keine Erzieherin bin, sondern ihre Tante Annika. Mit Erziehern kann man nicht spielen, denn sie sind streng und passen bloß auf. Ich aber würde nie schimpfen, wäre immer für die kleinen da und würde alle lieben. Deswegen lieben sie mich auch. Ich freue mich schon darauf morgen wieder hinzugehen und von einem guten Morgen Chor und vielen kleinen Händchen begrüßt zu werden.