Friedi-Rundbrief Felix Reinhardt

Liebe Unterstützer, Familie, Freunde, und überhaupt interessierte Leser,

hiermit erreicht euch mein 1. Rundbrief.

Ich bin Felix Reinhardt, 19 Jahre alt und lebe seit 3 Monaten mit einem Mitfreiwilligen in Nischni Nowgorod. Ich hab es erst nicht geglaubt, dass schon drei Monate rum sein sollen, denn der
„Alltag“ ändert sich immer noch gefühlt alle zwei Wochen an irgendeiner Stelle.

Als Freiwilliger Friedensdienstler bin ich nicht nur für soziale Arbeit entsandt, ein bisschen Frieden stiften und Völkerverständigung gehören auch zu meinem Auftrag. Weil wir in diesem Jahr zu zweit und nicht zu viert sind, leben wir jetzt nicht mehr in einer Wohnung irgendwo in der Stadt,sondern im Studentenwohnheim an der Lobachewsky-Universität. Das war gerade am Anfang recht trickreich, denn das Wohnheim ist so neu, dass es am Anfang buchstäblich keine Möbel gab. Zwei Betten, ein Tisch, ein Herd und eine Spüle, vielleicht sogar einen Stuhl. Verschiedene Schränke kamen dann in den folgenden Monaten nach und nach dazu.
Deshalb waren die ersten Wochen geprägt von viel Gerenne zu Behörden, wo man sich vorzustellen hat, Haushalt zusammenkaufen, herausfinden, wo z. B. die Waschmaschinen sind und tausend andere Aspekte und Prozeduren des Lebens in einem Wohnheim in Russland. Währenddessen der Kopf noch völlig damit beschäftigt, sich an die neue Sprache zu gewöhnen, das war erstaunlich anstrengend. Nach dem ersten Monat war das aber fast weg- ich verstehe zwar immer noch nur die Hälfte, aber es strengt nicht mehr extra an.
Am Mittwoch begann dann die Arbeit in den Schulen. Mit Inna, einer Deutschdozentin, die sich immer wieder am Anfang mit um die Freiwilligen kümmert, sollte ich mich dann für 9 Uhr bei der Direktorin vorstellen. Das funktionierte auch fast, denn Inna und ich haben uns gut verpasst. Das war aber kein
Problem, die Direktorin schickte mich dann in die 3. Klasse, und los. Ein Normaler Tag beginnt, um 07:25 verlasse ich das Haus und gehe zur Bushaltestelle, denn um 08:00 beginnt die Schule. Sie liegt recht nah an der Universität, das macht den Weg per Bus recht einfach.

Dann beginnt die erste Lektion. Je nachdem, welche Kinder da sind helfe ich entweder in der 2. oder 3.
Klasse. Die meisten Kinder haben irgendeine geistige Einschränkung. Nicht alle können sprechen, aber jeder kann sich selbst bewegen. Meistens arbeite ich in der 3. mit Ira, oder in der 2. mit Jarik oder Ljowa, je nachdem, wer gerade da ist oder nicht.

Bei Jarik bin ich mir nicht sicher. Er kann nicht artikuliert sprechen. Aber ich vermute, dass sein Kopf ansonsten ganz in Ordnung ist. Er hört alles, sieht alles und lässt sich nicht hinter das Licht führen. Mit ihm zu kommunizieren ist schwierig. Es gibt ein „Buch“ mit Piktogrammen, aber das verwendet er kaum und es ist auch kaum mit alltäglichen Vokabeln bestückt. Wenn er seinen Willen nicht bekommt, wird er schnell agressiv, kratzt, beißt und tritt. Oder hustet einem ins Gesicht, wenn man nicht aufpasst. An manchen Tagen, wo er gut gelaunt ist, macht er mehr Aufgaben, als der Rest in einer Woche zusammen, das funktionierte immer am besten mit ein paar Erdnüssen für eine fertige Aufgabe. An anderen Tagen ist er schwer ruhig zu kriegen.

Obwohl in der Klasse maximal 6 Kinder sind, in der Regel fehlen immer 1 oder 2, scheint das niemanden besonders zu stören. Die Lehrerin greift oft auf drohen zurück, aber Kommunikationsversuche sehe ich selten. Die anderen Kinder in der 2. Klasse (meistens bin ich hier) lernen nach und nach lesen und schreiben. Und ordentlich sprechen, denn das will auch gelernt sein. Um Halb 9 gehen wir über den Umweg „Hände Waschen“ zum Frühstück. Meistens gibt es eine Art Brei, Milchreis oder Omelett, dazu Weißbrot mit Butter und ein Glas Kakao oder Tee. Mit unfassbar viel Zucker. Also die Hälfte wäre mit Sicherheit auch genug gewesen.
Nach einer weiteren Lektion gehen wir mit den Kindern für die große Pause auf den Hof, also in die Garderobe, sich anziehen, mit mehr oder weniger Hilfe, dann gehts eine Halbe bis Dreiviertelstunde raus, je nach Wetter. Das ist nicht verkehrt, denn wer weiß, wann diese Kinder sonst vor die Tür kommen. Die Bereitschaft der Eltern, sich um ihre Kinder zu kümmern ist genauso breit gefächert wie in Deutschland, dementsprechend kann es durchaus sein, dass manche der Kinder sonst nicht oder kaum vor die Tür kommen.
Daraufhin wieder Umziehen, rauf in die Klasse, bei der nächsten Lektion trinke ich mit der Lehrerin meist eine Tasse Tee. Manchmal kommt auch eine der anderen Lehrerinnen vorbei, denn ein Lehrerzimmer haben wir nicht. Um ca. 11:45 gibt es dann Mittagessen, einen Teller Suppe, verschiedener Art und entweder Reis, Kartoffeln, Nudeln oder Buchweizen. Buchweizen an manchen Tagen mit Rindfleisch oder Leber, alles ordentlich gekocht, wenn auch weniger „ansehnlich“ als in Deutschland üblich. Ich vermute aber, manchmal deutlich bekömmlicher als deutsche Kantinen.
Nach dem Mittagessen ist auch für mich Feierabend, aber nur an der Schule. Florian und Ich besuchen zu zweit noch einige Menschen mit Behinderungen in Nischni. Da wir nur 2 Freiwillige sind und nicht die üblichen vier, gehen wir, da wir niemanden komplett auslassen wollen, nur alle zwei Wochen zu diesen Leuten. Das funktioniert ganz gut, ist aber manchmal etwas Stressig, einen Termin zu finden, falls jemand absagt.

Donnerstags besuche ich also alle Zwei Wochen Julia. Sie kann als einzige der uns Anvertrauten selber laufen, aber nur, wenn es ein Geländer oder einen Arm gibt, auf den sie sich stützen kann. Sonst verliert sie sehr schnell das Gleichgewicht. Meistens gehen wir eine Runde um die Häuser, allerdings nicht allzu weit, denn Laufen ist harte Arbeit, wenn man es so selten tut/tun kann. Oder wir trinken einen Tee und
quatschen eine Weile miteinander, oder spielen ein paar Runden Schach. Denn unsere Aufgabe ist, der Vereinsamung und Sozialen Isolierung vorzubeugen. Dann ist aber auch wirklich Feierabend, und meistens ist nach einem Tag mit Doppelprogramm meine Energie auch verbraucht, aber das ist in Ordnung, denn ich komme auf Arbeit an die Frische Luft und kann zufrieden schlafen gehen.

In meiner Freizeit mache ich recht viel Musik. An der örtlichen Musikschule gibt es ein Orchester. Das zu finden ging per Zufall, als ich auf der Pokrowka, der Hauptflaniermeile in Nischni einen jungen Straßenmusikanten ansprach. Der erzählte mir dann von der Musikschule, und wer der Direktor ist, an den ich mich wenden sollte.
Man sagt sowohl den Russen als auch den Deutschen nach, dass sie komische Vorschriften haben, warum irgendetwas nicht gehen soll. In Deutschland stimmt das meiner Erfahrung nach recht oft, in Russland habe ich da noch keine Probleme mit gehabt.
Nachdem ich dem Direktor mit meinem sehr begrenzten Russisch verständlich gemacht hatte, wer ich bin, und was ich von ihm will, nämlich mich zu dem Orchester zu setzen, verwies er mich an den Dirigenten. Der meinte, Euphonium haben sie eig. aus Prinzip nicht, könnte ich nicht vielleicht Posaune spielen? Nein? Na gut, dann komm mit deiner Trompete, auch wenn du unerfahren bist, spiel mit.
So einfach war das. Das ist zwar noch nicht ideal, weil ich noch kein Euphonium zum spielen habe, aber ich habe wieder Zugang zu einem Kreis von Musikern. Das hilft auch bei der Sprache, denn ich brauche Russisches Notensprechen und hören, viele von denen haben Interesse an Englisch oder Deutsch, und die meisten sind sowieso zu jeder Tages- und Nachtzeit dort. Ein bisschen wie die Fachschaft an der Uni.

Im Lager gibt es ein Euphonium. Das braucht ein bisschen Reparatur.
Davon krieg´ ich die Schule auch noch überzeugt. Mal sehen… Es ist jeden Tag wieder aufs neue Spannend.
Und damit möchte ich mich für meinen Ersten Brief von euch verabschieden, denn es
wird spät.

Liebe Grüße
Euer Felix