Rundbriefe Emilia Kühn

Unsere Frieda Emilia Kühn ist seit September 2017 in unserer Partnerstadt und leistet ihren Freiwilligendienst in der dortigen Förderschule Nr. 39. In ihren ersten beiden Rundbriefen zeichnet sie ein kritisches Bild von ihrer Arbeit und dem Land, zeigt aber auch einige interessante Details aus dem Leben als Ausländerin in Nischni Nowgorod auf. Vielen Dank für deine ehrlichen Berichte und eine interessante Lektüre!

Zweiter Rundbrief

Am Anfang ist es mir nicht leicht gefallen Nischni Nowgorod ins Herz zu schließen. Die Luft war dünn und dreckig, die Straßen vollgestopft mit Autos und Bussen, nur lebensmutige Radfahrer wagen es sich, in den schneefreien Monaten auf ihr Recht als Verkehrsteilnehmer zu pochen. Stößt man in der Innenstadt erstaunlicherweise doch auf eine der wenigen Grünflächen, muss man nicht auf den Geruch der Abgase verzichten, denn die Größe der grünen Oasen ist überschaubar. Will man einen Ausflug in einen der wenigen großen Parks unternehmen, liegt eine Busfahrt vor einem, deren Dauer dem entsprechenden Fußweg entspricht.

Auffällig sind die ortstypischen verfallenen alten Holzhäuser. Sie säumen die Straßen und durchbrechen die Einigkeit von Hochhäusern und goldenen orthodoxen Kirchen. Ihre Bauzeit liegt lange vor den Sowjetblocks, in einer Zeit als Nischni Nowgorod noch als Tasche von Russland bezeichnet wurde und Samoware die Küchen schmückten. Zu der Zeit- Mitte des 19. Jahrhunderts- fand im unteren Nischni Nowgorod die größte Messe Russland statt- das Messegelände entsprach inklusive der dazugehörigen Unterhaltungsmöglichkeiten Theatern, Freudenhäusern  und dem Zirkus- der Größe Venedigs. Die wertvollen Güter aus aller Welt – Tee aus Indien, gewebte Teppiche und Seidenstoffe aus China- fanden den Weg oft mit der berühmt berüchtigten transsibirisschen Eisenbahn. Die reichen Kaufleute erbauten auf der anderen Seite der Oka im oberen Nischni ihre Residenzen aus Holz, denn Holz ist in der waldreichen Region eine abundante Ressource. Wenn sie über ein großes Vermögen verfügten, errichteten sie, was zum guten Ton gehörte, noch in unmittelbarer Nähe eine orthodoxe Kirche. Obwohl man davon auf den ersten Blick nichts sieht, finden seit letzten Jahr Anstrengungen statt, die geschichtsträchtigen Häuser zu erhalten. So gibt es ein 1 Rubel Projekt. Ein jeder kann für die Summe von einem Rubel ein solches marodes meist zweistöckiges Gut erwerben. Der Käufer muss sich dafür jedoch verpflichten, für eine Renovierung aufzukommen, was sich nach jahrelanger Vernachlässigung sehr aufwendig gestaltet. Die meisten dieser Holzhütten sind mit aufwendigen Schnitzereien versehen. Auf ihnen sind vorchristliche Figuren- Pflanzenornamente und stilisierte Tiergestalten abgebildet. Wenn man Glück hat, erblickt man ab und zu auch mal eine Meerjungfrau. Diese magischen Figuren bewachen den Eingangsbereich, um den Hausbewohner vor bösen Geistern zu verschonen.

Vor kurzen wurde in Russland das heidnische Fest Masleniza zelebriert. Dieses altslawische Frühlingsfest heißt übersetzt Butterwoche. Die Menschen freuen sich über die bevorstehenden längeren Sonnentage. Dies wird zum Ausdruck gebracht, indem sie in Butter getränkte Blinis (russische Eierkuchen), die mit ihrer runden Form der Sonne ähneln, in großen Mengen, am besten mit den Händen, verspeisen. Die Völlerei wird am Sonntag mit dem Tag der Vergebung abgeschlossen. Eine Strohpuppe wird auf einem offenen Feld verbrannt. Sie soll den sterbenden Winter darstellen, der bald wieder aufersteht.

Ein anderes Fest, was es so in Deutschland nicht gibt, ist das Weihnachtsfest Jolechka, übersetzt Tännchen, am 31. Januar. Das neue Jahr wird traditioneller Weise mit der Familie zusammen begrüßt. Die Russen glauben, dass sich das neue Jahr so gestalten wird, wie das vergangene Jahr verabschiedet wurde.  Natürlich findet das christliche Weihnachtsfest hier auch statt. Nur ist es auf den 7. Januar verschoben, da die orthodoxe Kirche sich auf den gregorianischen Kalender beruft.

Am Anfang des Dezembers habe ich den ganzen so schon familiären Weihnachtskitsch, die unzähligen Glühweinständen mit dem dazugehörigen obligatorischen Sing-Sang auf den Weihnachtsmarkt und die nicht enden wollenden Weihnachtsfeste mit den bekannten Gesichtern sehr vermisst. Ganz auf meine Familie musste ich jedoch nicht verzichten! Meine Eltern wollten sich auch einen Eindruck von Russland machen und haben kurzer Hand beschlossen mich zu besuchen. Der 24. Dezember war ein besonderer Tag. Wir haben die Invalidin Olga, die ich regelmäßig besuche, mit in den Zirkus genommen. Das letzte Mal war sie dort vor zehn Jahren. Es hat mich gefreut, dass ihr vom Zirkus ein kostenloser Platz in der ersten Reihe gestellt wurde. Ich durfte mich daneben setzen. Als ich sagte, ich grusele mich vor den Kamelen, die in weniger als zwei Metern Entfernung auf der Manege rumturnten, sagte sie- Ich beschütze dich. Am Abend haben meine Eltern und ich ein Drei Gänge Menü gezaubert und noch eine andere deutsche Studentin, die ich hier kennen gelernt habe, zur Bescherung eingeladen. Über das neue Jahr machte ich mich auf um Moskau mit Freunden zu entdecken. Erstaunlicherweise hat mir das U-Bahn System am besten gefallen- Doch nicht nur die Schnelligkeit und Effizienz hat mich beeindruckt, sondern auch die aufwendig verzierten Bahnhöfe, die einigen Museen in nichts nachstehen. Vielleicht liegt das daran, dass ich in Berlin geboren bin und der öffentliche Nahverkehr dort bekanntlich nicht der vorbildlichste ist. Am 6. Januar besuchte ich die russisch-aizerbaidsanische Familie einer guten Freundin um mit ihnen das Weihnachtsfest zu begehen. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen, und musste wie alle anderen Familienmitglieder auch einen Toast aussprechen. Die Gläser und Teller wurden stets nachgefüllt, da leeres Geschirr auf ärmliche Verhältnisse schließen lässt. Typischerweise gab es zum Nachtisch Mandarinen. Zu dieser Zeit werden sie in Georgien geerntet. Am Ende des Abends, als alle vom köstlichen Festmahl gesättigt und vom Wodka erwärmt waren, entfachte ein Streit zwischen der alten und neuen Generation über Vor- und Nachteile des jetzigen politischen Systems. Leider habe ich in dieser hitzigen Situation nur wenig verstanden, doch es kam mir sehr bekannt vor. Zahlreiche Russen hegen ein großes Ressentiment gegenüber dem vergangenen Sozialismus. Es wird sehr bedauert, wie viele Kulturschätze vernichtet wurden- das reicht von vernachlässigten Friedhöfen, orthodoxen Kirchen, die in Schulen oder Schwimmbäder umgewandelt wurden, bis zur nationalen Küche, die durch Mayonaisse vergiftet wurde. Andererseits war die Schere zwischen arm und reich kleiner, und Arbeiterkinder wurden mehr gefördert.

Das besondere bei den ganzen Festen in der Schule war für mich, dass sämtliche Gegenstände in Handarbeit angefertigt wurden- Der Mantel von Väterchen Frost und das Kleid seiner Enkelin, die den schönen Namen Schneeflöckchen trägt, wurden für das Fest selbstgenäht, jegliche Dekorationen aus Buntpapier, Zeitungsausschnitten mit Schere und Kleber zu drei dimensionalen Tannen, Weihnachtssternen verwandelt. Zur Maslenitza wurde im Klassenraum eine bunte Girlande aus Buntpapier und Schnur aufgehängt. Meine Lehrerin erklärte mir, diese Fertigkeiten musste ihre Generation von klein auf lernen, während der Zeit der Perestroika wurden sie unentbehrlich. Vor kurzem wurde in meiner Klasse die Schule des Igels eröffnet. In der Holzwerkstatt der Schule wurde hierfür ein handgroßer Ausschnitt aus einer Zeitung, in eine halbe Meter große Igelabbildung geschnitzt. Von der Kunstlehrerin wurde der Igel bemalt- mit roter Latzhose, stachliger Mähne, ausgestattet mit verschiedensten Stiften. Jeden Tag bilden die Kinder einen Stuhlkreis um ihn und wir erarbeiten gemeinsam, was der Mensch sich für Tiere hält, denn woher soll der Igel, der bekanntlich im Wald wohnt, das wissen? Es gibt ein russisches Sprichwort, das dieses Phänomen ganz gut beschreibt. Из годна конфетку- Aus Scheiße Konfetti (russische Schokoladenbonbons) herstellen.

Viele Menschen sind desillusioniert. So hört man oft, dass sich zur bevorstehenden Wahl Putin als Zar thronen wird. Letztens meinte jemand zu mir, er denke es sei etwas in der Luft. Vielleicht spielt das hundertjährige Jubiläum der Oktoberrevolution eine Rolle. Wenn ich jemanden neues kennen lerne, gibt es gefühlt kein vorsichtiges Herantasten an den noch unbekannten Gesprächspartner. Sofort wird von Lebensträumen, tiefsten Überzeugungen und Familientragödien gesprochen. Der Frage nach dem Gehalt, die vorwiegend ältere Menschen sofort nach der Frage: Wieso ich denn ausgerechnet nach Russland gekommen bin, stellen, antworte ich mit dem Verweis auf deutsche Fördermittel. Für mich ist es manchmal ein wenig zu viel für den Anfang. Ungewohnt ist auch das dichte Herannähern von einem fremden Gesicht im Gespräch. Es fällt mir schwer, sofort so viel Vertrauen aufzubringen, doch langsam gewöhne ich mich daran.

Mir ist aufgefallen, dass sich ein Großteil der Menschen kaum vorstellen kann, wie schwierig es ist, eine Fremdsprache zu erlernen und dass nicht Muttersprachler einen geringeren Wortschatz aufweisen könnten. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Stadt 1931, als sie noch Gorki hieß, bis 1991 für Besucher aus dem Ausland, aufgrund der hier ansässigen Militärindustrie nicht zugänglich war. Die Otto-Normalverbraucher konnten es sich nicht leisten, in weiter Ferne Urlaub zu machen und zu Hause brauchte man nur Russisch.

Besonders lustig war es, als mich jemand fragte, nachdem ich von meiner Arbeitsroutine berichtete: Wenn du doch so viel Freizeit hast, wieso lernst du nicht noch zusätzlich chinesisch? Oft fühle ich mich in solchen Situationen gezwungen, zu zeigen, dass ich nicht dumm bin. Im Restaurant bestellte ich auf Russisch zur Masleniza Blinis, als Antwort bekam ich ein wenig genervt zu hören- Wenn es Ihnen schwer fällt, russisch zu reden, können sie die Bestellung gerne auf Englisch aufgeben. Das tat ich dann auch, und zwar fließend und schnell, sodass mein Gegenüber mich nicht verstand und mich etwas beschämt fragte, ob ich es nochmal auf Russisch wiederholen könnte.

Leider sind Zigaretten und Alkohol hier relativ billig. Auf der Straßen sieht man mehr Leute als in Deutschland, die ein ernsthaftes Problem mit Alkoholkonsum haben. Das finde ich zuweilen sehr traurig, da die Sozialstruktur nicht die beste ist. Wenn man zum Beispiel keinem Job nachgeht, kriegt man keine Sozialunterstützung. Auch ist die Mindestrente mit 7000 Rubeln sehr gering. Obwohl Frauen schon ab sechzig Rente beziehen können, müssen sich viele von ihnen weiterhin zur Arbeit schleppen, da sonst das Geld nicht reichen würde. Ich finde das Leben ist hier rauer, was sich mit einem Blick auf die Lebenserwartung bestätigt. Vielleicht wegen abschreckender Beispiele verzichten relativ viele junge Leute auf Alkohol. Dafür nutzen sie ihre Zeit um Bücher zu lesen und kulturelle Veranstaltungen zu besuchen. Ich habe hier schon einige getroffen, die sich mit einem beeindruckend breit gefächerten Wissen brüsten konnten. Die Sowjetunion galt als das Land mit den belesensten Einwohnern. Bücher, Karten für die Oper und das Ballett sind hier sehr preisgünstig.

Natürlich gäbe es noch viel zu berichten, ich denke jedoch, das für mich Wesentliche habe ich umrissen. Ich freue mich auf die Zukunft, auf neue Bekanntschaften, neue Erlebnisse und tiefere Einblicke in die russische Kultur.

 

Erster Rundbrief

Zur Zeit arbeite ich in der russischen Stadt Nischni Nowgorod in einer Förderschule. Die Fassade des 105 Jahre alten Gebäudes wurde bis jetzt noch nicht renoviert. Wie bei einer alten Teekanne hat sich über die Jahre eine krustige rissige Patinaschicht angelagert. Seit der Gründung hat das Gebäude die Oktoberrevolution erlebt, den Vaterländischen Krieg, die von Hunger geprägte Nachkriegszeit, die Sowjetunion, die Perestroika und nun die Russische Föderation.

An meinem ersten Arbeitstag kam ich zu spät. In der Straßenbahn verpasste ich meine Haltestation und hastete zur Förderschule Nummer 39. Mit schlotternden Knien stand ich vor der Empfangsdame, im Hintergrund von einem eingerahmten Putin, noch mit farbiger Mähne geschmückt, beobachtet. Mit sehr gebrochenen Russisch brachte ich hervor- „Direktorin Valentina Alexandrowna. Ich möchte sie treffen.“- Vorher hatte ich pflichtbewusst den Namen auf der Internetseite herausgesucht. Nachdem ich diese Wörter ausgesprochen hatte, runzelte sie ihre Augenbrauen bedenklich. Mit einer Handbewegung gab sie mir zu verstehen, ihr zu folgen. Am Büro angelangt, stand auf dem Türschild ein anderer Name- Tatjana Viktorowna. Mir dämmerte, dass sich die Internetseite nicht auf dem neusten Stand befand und Valentina Alexandrowna vor zwei Jahren verstorben war. Nicht der allerbeste Einstieg.

Die Tür zum Klassenzimmer öffnete sich und ich wurde herzlich begrüßt von der Klassenlehrerin. Sie überschwemmte mich mit einem Schwall von Wörtern. Ich konnte die Wörter nicht voneinander trennen, es war, als ob mir ein riesiges Wollknäulchaos entgegen geworfen wurde. Die fünf Kinder der Klasse 4D, schauten mich neugierig an. Sie sprachen dafür umso weniger. Erst waren sie mir sehr fremd, ich wusste nicht, was sie für Bedürfnisse haben, wie ich mit ihnen kommunizieren kann, geschweige denn, ob ich sie berühren darf. Diese Sorgen konnten jedoch im Laufe der letzten Monate verworfen werden. Um die Vorstellungsrunde einzuläuten, werde ich mit Galia beginnen, dem einzigen Mädchen der Bande. Sie liebt es zu reden, laut und viel, doch meistens wiederholt sie dieselben Phrasen. Zum Beispiel nach dem Mittagessen, wenn die Klasse gemeinschaftlich zu den Toiletten spaziert, kann man sich ihrer Fragen gewiss sein: Wo sind die Toiletten? Und wohin gehen wir danach? Ich denke, sie kennt die Antworten, weiß jedoch nicht, wie sie sich anders mit den Erwachsenen unterhalten kann. Vielleicht möchte sie es auch jeden Tag hören, um sich an den Klang der Wörter erinnern zu können und sie zu lernen. Da es ihr schwer fällt, mich Emilia zu nennen, hat sie nun Milka zu Tjotja (Tante) vereinfacht. Doch der Weg zur Tante verlief nicht ebenerdig. Am Anfang zerrte sie oft an meinen Klamotten, um meine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Nachdem sie auf diese Weise erfolgreich drei meiner Hemden zerrissen hatte, freute ich mich nicht immer ihr Gesicht zu sehen. Wir konnten uns arrangieren und in der Zeit ist es mir gelungen ihr Wesen ein wenig besser zu begreifen. Mir war erst nicht bewusst, wie sozial sie ist- Wenn in der Kantine Birnen verteilt werden, stellt sie zuerst sicher, dass alle anderen mit einer Birne versorgt sind, bevor sie ihre in die Schulmappe packt. Auch fällt es ihr sofort auf, wenn andere Schulkameraden nicht anwesend sind und sie erkundigt sich stets, warum sie nicht zur Schule gekommen sind. In der kurzen Zeit, die ich diese Klasse betreue, konnte ich beobachten, wie sehr sie an sich wächst und- natürlich in ihrer Geschwindigkeit- ihre Umgebung ein wenig besser versteht. Neben ihr sitzt ihr bester Freund- Roma. Er kommt aus einer relativ einkommensschwachen Familie. Seine Mutter wohnt mit ihren zwei behinderten Kindern und ihrem arbeitslosen Mann und drei anderen Familien in einer Wohnung in einem Arbeiterwohnheim. Sie arbeitet als Putzfrau und ihr Lohn ist zu gering um ihren Jungen, der sich mit zwölf Jahren gerade in der Wachstumsphase befindet, neue Schul-Hausschuhe zu kaufen. In der Schule zieht er deshalb oft die Schuhe aus. Roma ist stets sauber angezogen und gewaschen. Er ist sehr hilfsbereit und holt mir zum Frühstück und zum Mittag pflichtbewusst den Arbeitskittel aus dem Schrank, der mich vor spontanen Essenschlachten, die bis jetzt jedoch ausblieben, beschützen soll. Sein Lieblingsfach ist Sport. Mathe und Kunst kann er dagegen nicht ausstehen. Oft fühlt er sich von den Aufgaben überfordert und schlägt sich aus Missmut und Frustration mit der geballten Faust gegen den Kopf. Neben seiner Liebe für Galia- wenn sie nicht da ist, zeigt er beharrlich auf ihr Foto und sagt: Eto (Das ist) und Moi (meine). Bevor man ihm nicht ihren Namen genannt hat, und erklärt sie ruhe sich zu Hause aus, gibt er keine Ruhe.- hat er eine große Leidenschaft für Musik. In den Pausen klebt er die ganze Zeit an einem Musikabspielgerät und dreht sich zur der Melodie wie ein kleiner Derwisch. Dann gibt es noch Ljoscha- seine Diagnosen aufzuzählen dauert gefühlt eine Minute. Er ist sehr schlank, was ihn jedoch nicht davon ab hindert, alles in seiner Reichweite auf Gravitation zu testen. Eine besondere Vorliebe hat er dabei für seinen Tisch entwickelt. Meist wird mir dann die Ehre erteilt ihn wieder aufzustellen, da der kleine Drei-Käsehoch ihn kaum aufheben kann. Trotz seines oft unbändigen Verhaltens, tritt er im Klassenverband durch die längste Konzentrationsspanne hervor. Er kann alle Aufgaben, die ihm erteilt werden ohne große Schwierigkeiten lösen, und ist sehr dankbar über vorgelesene Geschichten.  Nur das Sprechen fällt ihm sehr schwer, was denke ich auch teilweise anatomisch bedingt ist. Gegenüber von ihm sitzt Mischa. Er spricht nicht, sondern gibt hohe piepsige Laute von sich, die an Walgesang erinnern. Ihn muss man stets genau im Auge behalten. Denn in jeder sich bietenden Gelegenheit führt er Fußbodenflusel, Plastikspielzeug oder Kleber zum Mund.  Seine Nachsicht bei der Essensauswahl, die sich ihm auf dem Laminatboden bietet, macht er wieder wett durch seine hohen Ansprüche an das Schulessen. Dort isst er fast gar nichts, außer homogenen unverdächtig aussehenden Getreidebrei. Zu guter Letzt gibt es noch Maxim. Er ist Halbwaise, da seine Mutter vor wenigen Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Er ist fast immer krank und sehr übergewichtig, dazu hängt ihm noch ein Sabberfaden vom Mund zur Brust. Ihm ist der sehr bedenkliche Tick eigen, erwachsenen Frauen sehr grob in die Brüste zu kneifen. Als er einmal mit aller Selbstverständlichkeit die Direktorin auf diese Weise begrüßte, erntete er sich drei beherzte Ohrfeigen.

An die Kinder habe ich mich gut gewöhnen können. Mein Immunsystem ebenso. Oft werde ich mit ihnen alleine gelassen oder muss während der Lehrerversammlung den ganzen Flur beaufsichtigen. Meine Annahme, auf einer Förderschule herrscht mehr Akzeptanz unter den Kindern war im Rückblick sehr naiv. In den Pausen bekomme ich häufig mit, wie die Kinder sich mobben. Besonders die Kinder meiner Klasse stehen in der Hackordnung ganz unten, da sie mit ihren schweren Behinderungsformen leichtes Material sind und sich verbal nicht wehren können. Das Verhältnis von Mädchen und Jungen zueinander finde ich auch oft sehr schwierig. So gehen beide Parteien miteinander sehr grob um- es wird sich beim Rangeln mit engen Körperkontakt an den Haaren gezogen, getreten und geschlagen. Meistens sind die Mädchen den Jungen körperlich unterlegen. Es scheint jedoch so, als ob den Mädchen diese wenig liebevolle Aufmerksamkeit gefallen würde. Zuweilen wandelt sich jedoch das Vergnügen in Angst um. Ich finde es sehr schwierig, in solchen Reaktionen adäquat zu reagieren, da körperliche Gewalt untereinander alltäglich ist und die Linie zu einer Gefahrensituation sehr dünn ist.

Sehr schade finde ich es auch, dass ich für die meisten Lehrer, mit einer Handvoll Ausnahmen (die Klassenlehrerin gehört auch dazu), nur Luft bin. Den Höhepunkt dieser Ablehnung konnte ich beim Besuch der russisch-deutschen Begegnung erleben. Damals saßen die drei Freiwilligen, mit der Delegation aus Essen und der Direktorin an einem Tisch. Die Direktorin hatte ihr Bedauern darüber geäußert, dass es in diesem Jahr keinen männlichen Freiwilligen an der Schule gäbe. Die Mädchen seien immer so passiv. Das fand ich sehr unverschämt und undankbar. Gerne würde ich mehr in das Schulgeschehen mit einbezogen werden. Doch bis jetzt kam es nicht dazu. Wahrscheinlich ist es auch deshalb schwierig, da meine Klasse die Werkräume nicht betreten darf und bei Schulfesten keine eigenen Programmpunkte gestaltet. Letztens war eine Lehrerin schockiert darüber, dass ich keine pädagogische Ausbildung besitze. Wir sollten zu zweit den Unterricht Tanz und Spiel gestalten. Zwar forderte sie mich auf Fachliteratur zu lesen, doch gleichzeitig konnte sie sich in einer Förderschule nicht vorstellen, dass es Kinder gibt, die kaum sprechen können. Natürlich besitze ich keine pädagogische Ausbildung, spreche nur gebrochen Russisch, kenne keine Diagnosen und bin deshalb kein Lehrerersatz. Doch zu mindestens probiere ich die Kinder zu respektieren, ihnen auf einer Ebene zu begegnen. In einigen Fächern ist das nicht der Fall. Es gibt einen Ersatz-Sportlehrer, der sich in der Turnhalle in die Ecke setzt und dort die ganze Zeit verharrt, den Blick auf sein Smartphone geheftet. Mir hat eine Lehrerin etwas ratlos gegenüber zugegeben, dass sie mit den Kindern überfordert ist und nicht weiß, wie sie den Unterricht gestalten soll. Leider bewegt sie diese Ratlosigkeit nicht dazu nach einem neuen Ansatz zu suchen, sondern zeigt den Kindern, von denen einige lieber die Hand als den Löffel zum Essen benutzen, russische Knigge-Zeichentrickfilme.