Rundbrief Marius Voss

Unser aktueller Friedi Marius berichtete seine sehr anschaulich die Eindrücke aus dem FSJ in Nischni Nowgorod und seinen Blick auf die russische Gesellschaft sowie aktuelle Themen. Vielen Dank für diese ausführlichen Eindrücke und viel Freude beim Lesen dieses interessanten Berichts. Marius‘ ersten Bericht finden Sie hier.

Hallo an alle Interessenten und Unterstützer,

mittlerweile lebe und arbeite ich jetzt schon seit knapp fünf Monaten hier in Russland, in Nischni
Nowgorod. Zeit, erneut einen Blick zurück zuwerfen und die zahlreichen Begegnungen, Erlebnisse
und Erfahrungen einmal einzuordnen. Schwerpunktmäßig soll sich dieser Rundbrief mit dem Land, den Menschen, der Politik, der Kultur und der Religion Russlands beschäftigen. All das sind natürlich sehr abstrakte Themen, weshalb ich in diesem Bericht versuchen möchte, sie anhand der Schilderung persönlicher Gespräche und Erfahrungen, näher zu bringen.
Als ich Anfang September hier in Nischni Nowgorod angekommen bin, war mir das Land nicht
völlig unbekannt und fremd. Im Zuge des Russischunterrichts während meiner Schulzeit und einer
Klassenfahrt nach Sankt Petersburg im Sommer 2015, habe ich mich schon mit Menschen, Kultur,
Sprache und der Politik Russlands beschäftigt. Trotzdem hat mich Russland mit seiner Eigenart und seiner großen Vielfalt an Völkern, Ethnien und Lebensweisen immer wieder aufs Neue überrascht, manchmal ernüchtert, aber häufig auch begeistert. Ich habe gelernt, dass es Zeit braucht, in eine Kultur einzutauchen, die unserer doch fremder ist, als zu Beginn gedacht.

Wenn Sie aktuell an Russland denken, fallen Ihnen vermutlich (vielleicht in geänderter
Reihenfolge) als erstes die Begriffe „Putin“, „Syrien-Krieg“, „Krim-Krise“ und „Ukraine-Konflikt“,
sowie die angebliche Einmischung Russlands in den US-Wahlkampf ein. Kurzum, die polarisierende Politik Wladimir Putins, besonders seine Außenpolitik, ist in den Medien, sowie in der Deutschen – und der Weltöffentlichkeit allgegenwärtig und wird häufig (meist auch zurecht) kritisiert. Doch wie unlängst bekannt, genießt dieser Mann hier in Russland höchste Anerkennung. Aber warum ist das so?
Auch wenn über Politik in Russland eher selten gesprochen wird, habe ich einige Gespräche, vor
allem mit jungen Studenten und Studentinnen ungefähr meines Alters, aber auch mit älteren Russen,
darüber geführt. Auf die Frage nach Putin und die oben genannten Themen waren die Antworten
fast ausnahmslos immer ziemlich ähnlich. So sei Putin, zumindest aktuell der einzige Mann, der das
große Russland regieren und führen könne. Die Krim-Krise und der Ukraine-Konflikt werden
dagegen relativ zwiegespalten gesehen. Die Eingliederung der Krim in die Russische Förderration
wird zwar mit dem Argument, die Krim habe schon immer zu Russland gehört und auch die
Bevölkerung dort sei überwiegend russisch, durchweg befürwortet, das militärische Vorgehen
Putins in der Ostukraine und die Art und Weise der Annexion der Krim, wird jedoch vor allem von
den jungen Russen durchaus kritisiert.

Die Annahme, Putins Zuspruch in der Bevölkerung basiere vor allem auf seinen außenpolitischen
Erfolgen, ist jedoch falsch. Die Antwort findet man dagegen, wenn man ein Viertel-Jahrhundert
zurückschaut. In diesem Zusammenhang möchte ich von einem Gespräch berichten, das ich vor
einiger Zeit mit dem Sportlehrer der Schule, in der ich arbeite, geführt habe. Er heißt Sascha, ist geschätzt Anfang/Mitte 30 und der einzige Lehrer der Schule, der Englisch kann. Auch er sieht in Putin aktuell den besten Präsidenten für sein Land. Seine Begründung dafür ist dabei sehr interessant.
Er erzählte mir von seiner Kindheit und Jugend in der Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991.
Diese Zeit unter dem ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt Boris Jelzin wird auch lichije
90-ie (wörtlich „flott“, „schneidig“) genannt und bezeichnet die wilden und stürmischen 1990er
Jahre des postsowjetischen Russland. Sascha erzählte, dass die Jelzin-Ära (1991-1999) die schlimmste Zeit in der jüngeren Geschichte Russlands gewesen sei. Er berichtete von hoher Arbeitslosigkeit, Alkoholproblemen, Drogenkonsum, Kriminalität, hoher Sterbe- und geringer Geburtenrate, sowie dem wirtschaftlichen Ruin Russlands auf allen Ebenen. So habe seine Mutter ihren Job in einer staatlichen Fabrik verloren und Freunde von ihm seien in Folge von Alkohol- und Drogenkonsum gestorben. Erst
unter Putin sei gegen all diese Probleme etwas unternommen worden und mittlerweile ginge es
ihnen verhältnismäßig gut.

Tatsächlich bedeuteten die radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach
dem Zerfall der Sowjetunion nicht nur neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten, sondern häufig
Rechtlosigkeit und Armut, denn nur die Mächtigen und Einflussreichen, die sich ehemaliges
Staatseigentum aneignen konnten, profitierten wirklich von den Reformen und der wirtschaftlichen
Öffnung. Für viele bedeutete der Zerfall der Sowjetunion neben Armut, Ängsten und Unsicherheit,
auch Orientierungslosigkeit, da die sowjetischen Normen, die fast 70 Jahre bestand hatten, praktisch
in einer Nacht zusammenbrachen. Erst Putin brachte wieder Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung und spürbar steigenden Wohlstand für die Mittelschicht. Mit Gesetzen bekämpfte er die Alkohol- und Drogenprobleme, sowie die Kriminalität. So ist es verboten auf offener Straße Alkohol zu trinken und in
Supermärkten, die in Russland meist rund um die Uhr aufhaben, darf nach 22:00 Uhr kein Alkohol
mehr verkauft werden. Genau diesen wirtschaftlichen Aufschwung und die soziale Sicherheit, die Putin gebracht hat, rechnen ihm Russen wie Sascha und viele andere hoch an. Darauf basiert Putins breite
Anerkennung in der russischen Bevölkerung. Er kann so seinen zunehmend autoritären Kurs und
die Freiheitsbeschränkungen im Vergleich zur Jelzin-Ära legitimieren.
Es gibt jedoch, wenn auch sehr vereinzelt, Putin-kritische Stimmen in Russland.
Bei einem Besuch in Moskau übernachtete ich bei Pavel, den ich auf der Suche nach einem
Schlafplatz über Couchsurfing kennengelernt hatte. Er ist Ende 30, spricht fließend 6 Sprachen (u.a.
Deutsch, Englisch und Italienisch) und lernt weitere. Laut seinen Erzählungen, hat er schon viel in
der Welt gesehen, und gehört ganz klar zur Moskauer Bildungsschicht. Angesprochen auf Putin,
reagierte er nur mit einem Abwinken. Laut ihm, habe das Agieren Putins auf der Krim und in der
Ostukraine wichtige diplomatische Beziehungen aufs Spiel gesetzt. Zudem würde Putin, Russland
mit seiner Außenpolitik in eine Außenseiterposition in der Welt manövrieren. Trotzdem glaubt er,
dass Putin auch auf lange Sicht in Russland fest im Sattel sitzen werde, da es (auch wegen Putin)
keine ernstzunehmenden Gegenkandidaten (mehr) gebe.

Die Einblicke und Erfahrungen, die ich hier bekommen bzw. gemacht habe, zeigen deutlich, dass
Russland nach wie vor ein Land im Umbruch ist. Solange die Sowjetzeit und vor allem auch die
schwierige Jelzin-Ära im Bewusstsein der Russen noch allgegenwärtig ist, werden sie an Putin und
seinen wirtschaftlichen Versprechen festhalten. Die staatliche Ordnung, nationale Würde und
soziale Fürsorge sind zumindest jetzt noch attraktiver, als der westeuropäische Liberalismus.
Ein ganz interessanter und auch aktueller Punkt ist die Sicht der Russen auf die USA und die Wahl
Trumps zum neuen Präsidenten. Eigentlich hatte ich die Erfahrung gemacht, dass die USA hier in Russland nach wie vor unheimlich negativ gesehen werden und man in Amerika, vor allem im Zuge der NATO-Osterweiterung, sogar eine ernsthafte Bedrohung für das eigene Land sieht. Diese Bedrohung wurde für Putin und die Russen mit der Stationierung von NATO-Atomraketen in Ost- und Mitteleuropa in den letzten Jahren immer realer. Unter Clinton hätte sich das Feindbild USA vermutlich sogar noch verstärkt. Trump dagegen wird hier in Russland ziemlich positiv gesehen. Man erhofft sich wirtschaftliche Kooperationen und deutlich bessere diplomatische Beziehungen. Dieses positive Bild Trumps, wurde auch durchweg von den russischen Medien verbreitet, was zur Folge hatte, dass sich fast alle hier, über den Ausgang der US-Wahlen gefreut haben.

Wie positiv Deutschland hier in Russland gesehen wird, hat mich dagegen fast schon überrascht.
Seitdem ich hier bin, habe ich in Bezug auf meine Herkunft, mit wenigen Ausnahmen, eigentlich
nur positive Erfahrungen gemacht und wurde immer freundlich empfangen. So sehen viele in
Deutschland ein wohlhabendes Land und besonders deutsche Produkte, vor allem deutsche Autos
haben auch hier einen hohen Stellenwert. Viele, vor allem Junge Leute, sind sehr interessiert und
erzählen von ihren Reisen nach Deutschland, oder dass sie dort unbedingt noch hinreisen wollen.
Einzig die russischen Medien berichteten und berichten leider im Zuge der Flüchtlingskrise
Deutschland-kritisch und missachten dabei oft journalistische Objektivität. Das hat zur Folge, dass
ich mir schon das ein oder andere Mal unangenehmere Fragen zu dieser Thematik anhören musste.
Oft ist es aber leicht im Gespräch Vorurteile abzubauen und es wird deutlich, dass viele junge
Russen und Russinnen mit Neugier und vielleicht sogar einer gewissen Form von Sehnsucht nach
Westeuropa schauen.

Im vorherigen habe ich fast durchgehend von „Russland“ geschrieben. Korrekt wäre aber die
Bezeichnung Russische Förderration gewesen. Das bringt mich zu einem nächsten interessanten
Thema, denn die Russische Förderration begreift sich als Vielvölkerstaat, in dem viele verschiedene
Ethnien direkt nebeneinander zusammen leben. Die größte Gruppe, der auf russischem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung, bilden mit ca. 80% natürlich die Russen. Die anderen ca. 20% teilen sich knapp 100 weitere Völker. Die größten Minderheiten sind dabei die Tataren (4%) , Ukrainer (2,2%), Armenier (1,9%) und Tschuwaschen (1,5%). Die nichtrussischen Minderheiten sind überwiegend Turkvölker (teils islamisch geprägt) mit eigenen Sprachen. Für viele dieser meist indigenen Völker wurden Republiken mit weitgehender Autonomie errichtet.

So befindet sich beispielsweise nur wenige 100 Kilometer von Nischni Nowgorod, die Wolga
flussabwärts (Richtung Osten), die autonome Republik Tatarstan mit der Hauptstadt Kasan.
Von meinen Erfahrungen hier in Nishnij kann ich zudem sagen, dass es auf der Straße durchaus
auffällt, dass in Russland mehrere Völker zusammenleben. So sieht man häufig südländisch
aussehende Menschen, die sich von den Russen deutlich unterscheiden. Hier in Nishnij sind das
meist Armenier oder auf Grund der räumlichen Nähe auch Tataren. Trotz unterschiedlicher
Religionen und Sprachen, war und ist das Zusammenleben eng und meist friedlich, sieht man von
den Konflikten im Grenzgebiet im Nordkaukasus (Tschetschenien) einmal ab.
Kommt man als Deutscher oder als Westeuropäer nach Russland, dann bemerkt man eigentlich
recht schnell, was russische Mentalität bedeutet. Auf den ersten Blick wirken die Menschen kühl
und verschlossen, lernt man sie dann näher kennen, sind sie meist unheimlich herzlich und
gastfreundlich. Trotzdem habe ich meiner Meinung nach lange gebraucht, einige typisch russische
Eigenarten für mich richtig einzuordnen und ich kann sagen, dass sich mein Bild von der Mentalität
der Menschen nach wie vor, von Tag zu Tag, erweitert und verfeinert. Für diese Eigenarten möchte
ich ein Beispiel nennen.

Das eine oder andere Mal habe ich an meinem Arbeitsplatz in der Schule oder auch auf der Straße
Meinungsverschiedenheiten mitbekommen. Da wird dann lauthals argumentiert, geflucht,
gestikuliert und ich hatte jedes mal das Gefühl, dass sich die beteiligten Personen nie wieder in die
Augen sehen werden. Genau so plötzlich, wie dieser raue und harte Ton aufgetaucht ist,
verschwindet er aber auch wieder und alles ist freundschaftlich wie zuvor. Der sonst so ruhige
Russe, kann in solchen Situationen plötzlich richtig südländisch-temperamentvoll werden.
Insgesamt habe ich viele Russen aber eher als introvertiert und ein bisschen melancholisch
wahrgenommen. Wem es aber gelingt das harte Äußere der Russen zu durchbrechen, der wird die
unheimliche Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit dieses Volkes nie wieder vergessen und Land und
Menschen lieben und schätzen lernen.

Vor allem im russischen Winter, den ich ja grade hautnah miterleben darf, spielt sich das Leben der
Menschen meist drinnen, in den Wohnungen der riesigen Wohnblocks, in denen in russischen
Städten eigentlich fast jeder lebt, ab. Das Leben in diesen Wohnblocks ist sehr anonym und von den
Nachbarn im gleichen Haus, kennt man häufig nicht mal den Namen. Die Familie hat für die Russen einen unheimlichen hohen Stellenwert. Häufig kommt es vor, dass drei Generationen zusammen in einer Wohnung leben. Grund dafür ist auch, dass im Vergleich zu Deutschland früher geheiratet wird und Frauen deutlich früher Kinder bekommen. Eine wichtige Rolle in Russland spielt mittlerweile wieder der orthodoxe Glauben. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und somit dem Verschwinden der atheistischen Staatsideologie des Marxismus-Leninismus, erlebte die Russisch-Orthodoxe-Kirche eine kleine Renaissance. Obwohl man sagt, dass relativ viele Russen atheistisch seien, gewann die Kirche in den letzten Jahren immer mehr an Einfluss, nicht zuletzt auch, weil viele in ihr eine Institution sehen, die den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft stärkt. Viele Kirchen, die in der Sowjetzeit verfallen oder umfunktioniert waren, wurden restauriert, einige sogar neu gebaut. Grade in Nishnij Nowgorod ist
der Besuch einer der vielen orthodoxen Kirchen auf jeden Fall ein Erlebnis. Mit dem orthodoxen
Glauben lebt ein Stück weit alte russische Kultur wieder auf, doch ist beispielsweise leider die
orthodoxe Kirche, auch für die konservative Haltung gegenüber Homosexueller in Russland
mitverantwortlich.

Eine ganz besondere russisch-orthodoxe Tradition durfte ich hautnah miterleben. Um 24 Uhr in der
Nacht vom 18. auf den 19. Januar feiern die Russen Kreshenie (russ. = „Taufe“), in Anlehnung an
die Taufe Jesu im Jordan. Nur hat man in Russland um diese Jahreszeit keinen „warmen“ Jordan.
Als Alternative in Nischni Nowgorod, dient die im Winter komplett zugefrorene Wolga, in die ein
Eisloch (traditionell in Kreuzform) geschlagen wird. Als gläubiger russisch-orthodoxer Christ, steigt
man in dieses Eisloch, taucht drei mal komplett unter und bekreuzigt sich.
Dieses Erlebnis wollten auch wir Freiwillige uns nicht entgehen lassen und so gingen wir zur
besagten Zeit, ausgestattet mit Badeklamotten und Handtüchern, zu einem vorbereiteten, offiziellen
Eisloch in der Wolga. Offiziell bedeutet, dass Krankenwagen und Polizisten für Notfälle
bereitstanden. Als wir am Eisloch ankamen, standen dort schon bestimmt ca. hundert Menschen und einer nach dem anderen (Männer wie Frauen), stieg über eine Leiter in das Eisloch, befolgte das oben
beschriebene Ritual und machte dann möglichst schnell wieder Platz für den nächsten. Unser
Ehrgeiz war natürlich schnell gepackt und so stand auch ich irgendwann, nur in Badehose bekleidet,
in der Schlange vor dem Eisloch. Die Außentemperatur betrug -15 Grad Celsius, was im Gegensatz
zu den -35 Grad Celsius, die wir diesen Winter schon erleben durften, noch halbwegs „warm“ war.
Als ich endlich an der Reihe war, hieß es dann auch für mich, ab ins Eisloch, ins vielleicht ein Grad
Celsius „warme“ Wasser, drei mal komplett untertauchen und so schnell wie möglich wieder raus.
Sobald man im Wasser ist spürt man eigentlich gar nichts mehr, unerträglich kalt wird einem
spätestens, wenn man nass wieder aus dem Wasser kommt. Zum Aufwärmen gab es dann ein beheiztes Zelt, warmen Tee und traditionell russischen Wodka. Blicke ich auf dieses Erlebnis zurück, hat mich besonders erstaunt, wie viele Menschen dieser Tradition wirklich nachgekommen sind. Die ganze Prozedur mit Umziehen, Anstehen, Eintauchen, Abtrocknen dauert vielleicht knapp zehn Minuten. Trotzdem wurden es gefühlt nie weniger Menschen, da die ganze Nacht immer neue Leute nachgekommen sind. Viele trugen zudem Kreuzketten und es schien, dass für die meisten wirklich die religiöse Bedeutung dieses Ereignisses im Vordergrund stand.

Alles in allem habe ich Russland, als ein Land unheimlicher Gegensätze wahrgenommen. Nach wie
vor merkt man, dass sich das Land im Umbruch befindet und die Sowjetzeit spuren hinterlassen hat,
die auch heute, über ein viertel Jahrhundert später, noch klar zu erkennen sind. Die Schere zwischen arm und reich ist unheimlich groß. So sieht man in den großen Städten einerseits arme Babuschkas (russ. = „Großmutter“) am Straßenrand sitzen und betteln, andererseits aber auch dicke europäische oder amerikanische Autos und grade in Städten wie Moskau und Sankt-Petersburg unheimlichen Protz.
Riesige Unterschiede gibt es auch zwischen Stadt und Land. So ist eine gute Infrastruktur in
ländlichen Gebieten kaum vorhanden und auch die durchschnittlichen Einkommen und Preise, sind
mit denen der Städte in keine Relation zu setzen.

Mit Nischni Nowgorod lebe ich in einer wirklich typisch russischen Stadt. Hier ist eine ausgebaute
Infrastruktur zwar vorhanden, im Vergleich mit Westeuropa, sind aber beispielsweise Straßen, der
öffentliche Verkehr und viele Häuser in einem sehr schlechten Zustand.
Einen noch größeren Unterschied, als den zwischen Stadt und Land, findet man, wenn man Moskau
und Sankt-Petersburg, mit dem restlichen Russland vergleichen will. Diese beiden Städte haben mit
„typisch russisch“ nicht mehr viel zu tun und spielen auf jeden Fall in einer eigenen Liga und
befinden sich auf höchstem westeuropäischem Niveau. Wenn man beispielsweise allein den UBahn-
Preis von Nischni (20 Rubel pro Fahrt), mit dem von Moskau (50 Rubel pro Fahrt),
vergleicht, weiß man wie teuer eine Stadt wie Moskau für viele Russen ist.
Diese Polarität findet sich auch in der russischen Gesellschaft wieder. Viele gebildete und
wohlhabendere Russen haben die Möglichkeit die Welt zu bereisen und ausländische Medien zu
nutzen. Auf der anderen Seite bleibt vielen dieser Blick über den Tellerrand aber auch verwehrt und
manche kennen selbst russische Städte wie Moskau und Sankt-Petersburg, nur aus dem russischen
Staatsfernsehen, das gleichzeitig auch Hauptnachrichtenquelle ist.
Grade die junge Generation der Russen macht mir aber Hoffnung. Viele habe ich in Hinblick auf
internationalen Austausch, Beziehungen und Kontakte, als sehr interessiert und offen
wahrgenommen. Zunehmende Bildung und internationale Perspektiven werden deshalb meiner
Meinung nach in Zukunft dafür sorgen, dass der autoritäre Kurs Putins, auf lange Sicht irgendwann
nicht mehr unterstützt werden wird.

Mit lieben Grüßen aus Nischni Nowgorod,
Marius Voss