Abschlussbrief Carl Placke

Unser aktueller Friedi Carl berichtete seine Erfahrungen aus dem FSJ in Nischni Nowgorod und zieht ein Fazit über sein Jahr in Russland. Vielen Dank für diesen ausführlichen und ehrlichen Bericht und eine gute Rückkehr nach Deutschland. Viel Freude beim Lesen dieses interessanten Berichts. Carls vorherige Berichte finden Sie hier.

Seit knapp einem Jahr lebe ich nun schon in Russland, eine eigentlich so lange Zeit, die allerdings gerade jetzt zum Ende des Jahres wie im Flug vergeht.

Ein Jahr in Nischni Nowgorod, es wird Zeit ein Fazit zu ziehen und einen Blick zurück zu werfen.

Zwölf Monate in ein mir bis dato fremdes Land zu ziehen ist für mich tatsächlich eine gar nicht so schwere Entscheidung gewesen, die ich bis heute nicht bereue, nein über die ich mehr als glücklich bin. Rückblickend kann ich sagen, dass ich in vielerlei Hinsicht Dinge kennen, schätzen und lieben gelernt habe.

Meine Arbeit betreffend, habe ich anfängliche Berührungsängste zu Behinderten abgelegt und neben meinen Kindern in der Schule, ist mir auch Mischa, mein Schützling, den ich zuhause betreue, sehr ans Herz gewachsen. Ich kann sagen, dass sich mein Blickwinkel auf Menschen mit Behinderungen sehr verändert hat. War dieser anfangs doch eher distanziert, kann ich sagen, dass ich hinsichtlich des Denkens und der Gefühle von Menschen mit Behinderungen viel sensibler und einfühlsamer geworden bin.

Die soziale Arbeit im Rahmen des Friedensdienstes hat nicht nur direkt den Invaliden oder Kindern in der Schule geholfen, sondern auch mir persönlich gezeigt, wie wichtig es ist, dass gerade Menschen wie Mischa, die zwingend auf diese Hilfe angewiesen sind, diese auch bekommen. Deshalb ist es auch dringend notwendig, dass immer wieder neue Freiwillige diese Aufgabe angehen.

Ich selber kann sagen, dass auch ich an dieser Herausforderung gewachsen bin.

Während des Jahres ist man auch durch die Arbeit selbstständiger, sicherer, vielleicht ein Stück erwachsener geworden. Ich denke, dass mich der Freiwilligendienst in vielerlei Hinsicht auch für mein weiteres Leben geprägt hat.

Ein weiterer Aspekt ist der des Wertschätzens. Erst in Russland, wo es Armut gibt, welche ich in dieser Form in Deutschland nicht kennengelernt habe, habe ich verstehen können, wie gut es uns in Deutschland eigentlich geht. Scheinbare Selbstverständlichkeiten, wie eine intakte Infrakstruktur, Trinkwasser aus dem Wasserhahn, einen unglaublich hohen Standard im Bezug auf Lebensmittel aber auch die gesamte Lebensqualität, ein gutes Sozialsystem, gute Krankenversichrungen usw., sind Privilegien, auf die wir stolz und für die wir dankbar sein sollten. Die Wertschätzung des Reichtums, den wir in Deutschland haben, ist eine Errungenschaft des Jahres, die ich für absolut wichtig erachte.

Auch habe ich erst in Russland erkannt, in wie vielen Bereichen und in welchen Mengen Deutschland Waren exportiert und das auch deshalb aus rein wirtschaftlicher Sicht gute Beziehungen zu anderen Ländern mehr als wichtig sind. Ein für mich persönlich sehr wichtiger Aspekt ist allerdings der, dass ich das größte und vielleicht auch facettenreichste Land der Welt kennen und lieben gelernt habe.

Auch am Ende meines Jahres muss ich mir, obgleich ich in Russland viel gesehen und erlebt habe, eingestehen, dass ich Russland immer noch nicht komplett begreife. Vielleicht wird man Russland als Ausländer nie ganz verstehen.Vermutlich ist ein Jahr aber auch einfach eine zu kurze Zeit dafür.

Vollen Gewissens kann ich sagen, dass ich die russische Mentalität, die russische Kultur, die russische Art und das russische Leben in Deutschland vermissen werde. Wenngleich es immer noch Eigentschaften gibt, die ich nie verstehen werde, wie z.B. die Unpüktlichkeit vieler Russen. Vielleicht ist mir auch in diesem Punkt ein Unterschied zwischen den Werten, die ich während meiner Erziehung aufgezeigt bekommen habe und denen, der Mentalität Russlands klar geworden. Zum Beispiel ist „Deutsche Pünktlichkeit“ eben auch nicht nur ein leeres Klischee. Auch muss ich sagen, dass ich die Phrase „Это наш менталитет“ (das ist unsere Mentalität) in vielen Gesprächen als Entschuldigung oder gar Ausrede für z.B. mangelndes Interesse am Allgemeinwohl oder der Politikverdrossenheit nicht nur einmal gehört habe. Auch habe ich von vielen Leuten in Russland gelernt, dass Russen gerne unzufrieden sind und sich oft und gerne beschweren, selbst aber eine Initiative etwas zu ändern, vermissen lassen. Auch hier habe ich auf Nachfrage oft die Antwort „Это наш менталитет“ erhalten.

Nichtsdestotrotz  habe ich in Russland eine Herzlichkeit erlebt, eine Bescheidenheit und eine Dankbarkeit erfahren, die mich sehr fasziniert hat. Auch die russische Gastfreundlichkeit ist herzerwärmend. Auch während meiner Reisen in Russland konnte ich das Land immer besser kennenlernen.

Während einer vierundzwanzigtägigen Reise in den Osten des Landes, die uns bis in die Mongolei führte, konnte ich einen Einblick in den asiatisch- buddhistisch geprägten Teil des Landes gewinnen und gleichzeitig die Schönheit Sibiriens erfahren. Neben diversen Städten, dem Ural und dem Baikalsee zu sehen wie vielfältig Russland ist, hat mich tief beeindruckt. Russland ist eigentlich ein streng christlich-orthodoxes Land, welches in vielen Punkten sehr konservativ ist. Gerade bei der Thematik der Homosexualität wird dies besonders sichtbar. Dennoch besitzt Russland auch was Religion angeht eine Bandbreite, die ich, gerade auch wegen der Tatsache, dass alle Religionen größtenteils friedlich miteinander leben, absolut schön und erstrebenswert finde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gerade in Kazan, der Hauptstadt von Tatarstan hat mich diese friedliche Koexistenz tief beeindruckt. So befindet sich dort im Kreml neben einigen orthodoxen Kirchen eine große Moschee.

Vielleicht kann man die friedliche Vielfältigkeit wiederum mit vergangenen Sowjetzeiten, in denen Religion, verpönt als „Opium fürs Volk“ unterdrückt worden war, erklären. Vielleicht aber auch mit dem sehr starken Nationalstolz unter welchen alle Russen, egal ob christlich-orthodoxer Moskowit, muslimischer Tatar oder buddhistischer Burjate zusammenstehen. Eine solche gegenseitige Akzeptanz der Religionen ist etwas Wünschenswertes für unsere gesamte Welt.

Selbstverständlich auch im Bezug auf die Völkerverständigung, die mir persönlich sehr am Herzen lag und liegt, betrachte ich das Jahr als Erfolg. Zweifellos können wenige Freiwillige in der Beziehung unser beiden Länder keine Berge verrücken, doch bin ich fest davon überzeugt, dass jedes kleine Gespräch, jede geführte Diskussion, jede geschlossene Bekanntschaft oder Freundschaft einen wichtigen Teil zur Völkerverständigung beiträgt.

Gerade die Gepräche mit Jugendlichen in meinem Alter waren für mich besonders interresant. So konnte ich nicht nur mit Vorurteilen gegenüber Deutschland aufräumen, sondern auch ein Verständnis entwickeln für die Einstellung vieler Russen zum „Westen“.

Ich denke, dass Russland und gerade die junge Generation, die nicht von alten Sowjetzeiten beeinflusst oder gar geprägt ist, ein unglaublich großes Potential birgt.

Selbstverständlich ist es unumgägnlich immer wieder das Gespräch zu Russland zu suchen. Kommunikation ist der effektivste Weg um Probleme und Meinungsverscheidenheiten zu Lösen.

Ohne Zweifel bin auch ich mit einigen Vorurteilen nach Russland geflogen. Einige Klischees, wie z.B. das über den übermäßigen Alkoholkonsum vieler Russen, haben sich für mich in gewisser Form bestätigt. Auch der russischer Winter, hat mich in Punkto Länge, Kälte und Intensität nicht hinter meinen Erwartungen zurückgelassen.

Während meiner Zeit in Russland habe ich natürlich auch ein paar russische Gewohnheiten angenommen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die russischen Essgewohnheiten, die ich mir im Laufe des Jahres teilweise zu Eigen gemacht habe. Generell würde ich sagen, dass ich gegenüber neuen Dingen noch offener geworden bin.

Zugegebenermaßen habe ich durch die Selbstverpflegung einen anderen Bezug zu Geld bekommen. Sprachlich habe ich natürlich auch eine ganze Menge lernen können, wenn auch nicht so viel wie vielleicht zu Anfang des Jahres erhofft.

Rückblickend schaue ich mit Dankbarkeit und ein wenig Wehmut auf meine Zeit in Russland zurück. Ich denke, dass es eine optimale Gelegenheit war, meinen eigenen Horizont zu erweitern und dabei auch noch etwas Gutes zu tun.

Gleichwohl bin ich überzeugt, dass es mit Sicherheit nicht das letzte Mal war, dass ich das größte Land der Erde besucht habe.

Спасибо, Россия и до свидания!