Rundbrief Carl Placke

Rundbrief Carl Placke

Unser aktueller Friedi Carl berichtete seine Erfahrungen aus dem FSJ in Nischni Nowgorod, der Feier des „Tag des Sieges“ und seiner Reise auf die aktuell umstrittenste Halbinsel der Welt – die Krim. Viel Freude beim Lesen dieses interessanten Berichts. Carls ersten Bericht finden Sie hier, seinen zweiten hier.

Mein Name ist Carl Placke und ich lebe nun seit mehr als acht Monaten in Russland. Da ich mittlerweile total meinem Alltag verfallen bin, mochte meinen dritten Bericht dazu nutzen, über verschiedene Aspekte zu berichten, die mir in Russland begegnet sind und mich entweder sehr fasziniert, verwundert oder mich einfach beeindruckt haben.

Russland ist so unglaublich facettenreich, dass ich im Folgenden nur ein paar mir wichtige Beispiele ausgewählt habe, um über sie zu berichten. Wie in jedem Bericht beziehe ich mich auch in diesem auf eigene Erfahrungen und Gefühle, die durchaus nicht immer der objektiven Wahrheit entsprechen müssen.

Ein erster, mich total faszinierender Aspekt Russlands ist der unfassbar starke Nationalstolz der Menschen, der gerade zum wichtigsten Feiertag, dem День Победы, 9. Mai – Tag des Sieges, auf ein Niveau und eine Intensität gebracht wird, welche ich in dieser Form noch nirgendwo erlebt habe. Hierbei ist wichtig zu erwähnen, dass sich die meisten Russen der eigenen Probleme im Land durchaus bewusst sind und dass sie dennoch unglaublich stolz darauf sind Russen zu sein.

Meiner Meinung nach ist dieses Nationalgefühl unglaublich wichtig für Russland, da es vermutlich internen Problemen im Land vorbeugt und ein Gemeinschaftsgedanke entsteht. Denn wie in meinem zweiten Bericht beschrieben, besteht die Russische Föderation aus zahlreichen einzelnen Nationen. Andererseits wird dieses stark verankerte Nationalgefühl von der staatlichen Propaganda des Kremls eben genau dazu gezielt missbraucht, die eigene Bevölkerung ruhig zu halten und von der Korruption, der immer starker werdende Zweiklassengesellschaft, der nicht vorhandenen Presse- und Meinungsfreiheit und den zahlreichen anderen Problemen des Landes abzulenken.

Gerade zum Tag des Sieges, dem Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ ist dieses besonders gut sichtbar. Schon Wochen vorher kann man verschiedenste Produkte in den Nationalfarben Russlands und in Orange-Schwarz (Sankt-Georgs-Band) kaufen, von Fahnen über Militarmützen bis hin zu Aufklebern für Autos. Vielleicht lässt sich dieses Gefühl im Ansatz mit der Nationaleuphorie vergleichen, die in Deutschland alle vier Jahre zu einer Fussballweltmeisterschaft herrscht. Nur würde ich persönlich sagen, dass in Russland gerade zu diesem alljährlichen Fest das Gemeinschaftsgefühl und der Nationalstolz noch viel starker und gefestigter sind. Im Zusammenspiel mit Russlands Nationalgetränk kann dies in unglücklichen Fällen zu unangenehmen Situationen führen.

Tag des SiegesDer Höhepunkt dieses Festes, bei welchem es eigentlich gilt, den Kriegsopfern zu gedenken und den tapferen russischen Soldaten zu danken, die das Vaterland verteidigt haben, ist eine große Militärparade, die es in eigentlich jeder großen Stadt Russlands gibt. Die unbestreitbare Militärverherrlichung wirkt hierbei nahezu paradox. Einerseits versucht man an das schrecklichste Ereignis des 20. Jahrhunderts zu erinnern und an die Kinder zu appellieren, niemals zu vergessen was passiert ist und somit nie wieder einen Krieg zuzulassen, andererseits sieht man schon kleinste Kinder in Militäruniformen und mit Holzmaschinengewehren rumlaufen.

Tag des Sieges 3Selbst in der Schule, in der ich mit behinderten Kindern arbeite, führte kein Weg am wichtigsten Feiertag Russlands vorbei. Im Unterricht malte man beispielsweise Panzer oder bestaunte gemeinsam die Militärparade des letzten Jahres. Allerdings muss ich auch hier wieder betonen, dass ich als Deutscher mich zu keinem Zeitpunkt Anfeindungen ausgesetzt sah, sondern ich konnte gemeinsam mit Russen den Tag des Sieges über den Faschismus und den Sieg des Великая Отечественная война, also des Großen Vaterländischen Kriegs feiern. Generell konnte man in den Gesprächen der Menschen auf den Straßen immer wieder das Wort фашисты – Faschisten und kaum das Worte Немцы – Deutsche hören.

Als Ausländer kann es durchaus passieren, dass man in Russland in Fettnäpfchen tritt, wenn man sich über Russland und seine Probleme unterhält. So kann es passieren, dass man schnell unabsichtlich wunde Punkte trifft, die eben aufgrund des großen Nationalstolzes zweifellos vorhanden sind. Umso glücklicher bin ich, wenn ich in der Schule mit den Lehrerinnen über die unzähligen deutschen Worte scherzen kann, die sich die russische Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg zu eigen gemacht hat. Von Butterbrot über Schnaps bis zum Paruckenmacher (Friseur) sind diese Wörter auch im Alltag unumgänglich.

Ein weiterer, mich total faszinierender Punkt ist meine Abhängigkeit vom aktuellen politischen Geschehen in Russland wie auch dem in Europa, dass sich direkt oder indirekt auf den Rubel-Euro Kurs auswirkt. Da mir meine Bezahlung in Euro überwiesen wird, ich jedoch nur Rubel abhebe, ist man gezwungen, den Wechselkurs genau im Auge zu behalten. Umso mehr freut man sich dann z.B. über eine Wahl in Frankreich, bei der eurokritische Rechtspopulisten eine Niederlage hinnehmen müssen, weil dies eben wieder positiv auf den Euro und somit, zumindest aus meiner Sicht, auch positiv auf den Wechselkurs Euro-Rubel wirkt. Generell lasst sich sagen, dass der Rubel, seitdem wir im September angekommen sind, extrem im Wert gestiegen ist. So hatten wir anfangs einen Kurs von 1~71, während es im April zwischenzeitlich nur noch 1~59 waren. Jedoch wird der Rubel auch unabhängig vom Euro wesentlich vom Ölpreis beeinflusst.

Doch auch die Sanktionen Amerikas gegen Russland durfte ich am eigenen Leib erfahren: Mitte Mai bin ich, zusammen mit einem Mitfreiwilligen, auf die in den letzten Jahren wohl umstrittenste Halbinsel der Welt und für mich einen der schönsten Orte der Erde geflogen – die Krim. Auch da ich mich im Zuge einer Geschichtsfacharbeit lange mit der Historie der Krim beschäftigt hatte, war es ein absolutes Muss in meinem Jahr in Russland das Schmuckstück im Schwarzen Meer zu besuchen.

Die Krim gehört nach offiziellen Völkerrecht zur Ukraine, wird de facto allerdings seit März 2014 von Russland verwaltet und als Teil der Russischen Föderation gesehen. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass tatsächlich alle Russen, mit denen ich über dieses Thema diskutiert habe, eine klare Meinung haben: „Крым – наш!“ zu Deutsch so viel wie „Die Krim ist unser!“ Obgleich nicht viel, oder gar kein Wissen über die Krim oder ihre Geschichte vorhanden ist, haben doch nahezu alle diese absolut starke, ja gar versteifte Meinung.

Bilder Krim

 

Ohne jegliche Bedenken, schließlich mit einem Jahresvisum der Russischen Föderation ausgestattet, flogen wir also von Moskau nach Simferopol, der Hauptstadt der Krim, um uns nach kurzer Zeit zu erinnern, dass es ja noch diese „Sanktionen“ gab. Tatsachlich bedeutete dies, dass auf der Krim bis hin zu McDonalds jegliche amerikanische Firma aufgehört hatte, Geschäfte zu machen, einschließlich dem Betreiber unsere Kreditkarten. Mit umgerechnet noch ca. 2€ in der Tasche mussten wir feststellen, dass wir in unserer Planung etwas Wesentliches vergessen hatten. Glücklicherweise hatte ich noch persönliche Kontakte auf der Krim, die uns dann mit größter Hilfsbereitschaft aus unserer Misere halfen.

Mir erschließt sich tatsachlich bis heute nicht der Sinn dieser Sanktionen. Wenn ich in Moskau und sonst überall in Russland die Dienste amerikanischer Firmen in Anspruch nehmen kann und die Annexion der Krim 2014 vom Kreml in Moskau ausgegangen ist, so scheinen mir die Sanktionen gegen die Krim und ihre Bevölkerung doch viel mehr das Bestrafen und Sanktionieren eines Opfers zu sein, das zum Spielball im erneuten West-Ost Konflikt geworden ist. Auch denke ich nicht, dass sich die überwiegend russische Bevölkerung wegen der Sanktionen gegen Putin stellen wird. Der oben beschriebene Nationalstolz ist dafür zu groß.

Bild Carl untenAuf der Krim wurden wir dann erstaunt, aber dennoch herzlich willkommen geheißen. Der Tourismus sei während der letzten Jahre nahezu komplett eingebrochen. Lediglich wenige, aber dafür sehr reiche Russen wurden nun noch die Krim besuchen. Wir hatten dort trotz allem eine sehr schöne und selbstverständlich auch lehrreiche Zeit.

Abschließend muss ich sagen, dass ich unglaublich stolz und froh bin, nach all dem was in der Vergangenheit zwischen Deutschland und Russland passiert ist, all den Schrecklichkeiten des Zweiten Weltkrieges, ein Jahr in Russland leben zu können und hier aktiv zur Völkerverständigung beitragen zu können. Auch in politisch schwierigen Zeiten ist es zwingend notwendig, dass wir uns nicht weiter voneinander entfernen, sondern immer wieder Schritte aufeinander zu gehen. Es ist unendlich wichtig, dass wir aus der Geschichte lernen und die Freundschaft unserer beiden Nationen pflegen und behüten.