Rundbrief Carl Placke

Unser aktueller Friedi Carl berichtete seine Erfahrungen aus dem FSJ in Nischni Nowgorod und gewährleistet einen Einblick in seine Erfahrungen mit Land und Leuten. Viel Freude beim Lesen dieses interessanten Berichts. Carls ersten Bericht finden Sie hier.

Seit knapp fünf Monaten lebe ich nun in Russland oder besser gesagt im russischen Nischni
Nowgorod. Gleich eingangs muss ich sagen, dass es mir unglaublich schwerfällt, von ‚Russland‘ zu schreiben, da die Russische Föderation rund 180 Nationalitäten in 22 Republiken, 47 Gebieten (Oblast) und 9 Regionen (Krai) umfasst, was bei der enorm großen Landfläche (ca. 48-mal so groß wie
Deutschland) nicht weiter verwunderlich ist. Ich persönlich hatte das Glück, neben einigen kleinen Dörfern in der Nähe meiner ’neuen Heimat‘ Nischni, schon St.Petersburg, Moskau und Cheboksary (Hauptstadt von Tschuwaschien) kennenzulernen.

Folglich werde ich mich im folgenden Bericht auf eigene Erfahrungen und Gefühle beziehen.
Russland zu begreifen und zu verstehen ist nicht gerade einfach. Mir fiel es anfangs nicht gerade
leicht, obwohl ich schon in der Schule einiges über das größte Land der Welt gelernt habe.
Die russische Mentalität würde ich im Allgemeinen als rauh aber absolut herzlich beschreiben.
Was mich beispielsweise extrem gewundert hat, war, dass meiner Erfahrung nach erstaunlich wenig
über Politik geredet wird. Auch gibt es kaum Kritik an der derzeitigen politischen Führung unter
Wladimir Putin. Dieser wird viel mehr als Nationalheld gefeiert und unterstützt, der Russland vor
der Politik des Westens bestmöglich schützt und führt. Die Wahl Trumps zum neuen Präsidenten der
USA wurde ebenfalls mit Freude aufgenommen, anders als die deutsche Außenpolitik,auch
hinsichtlich der Flüchtlingskrise, die in ihrer verzerrten Wiedergabe weitestgehend mit
Unverständnis bis zur Fassungslosigkeit wahrgenommen wird.

Gerade hinsichtlich solcher politischen Fragen hat sich mir gezeigt, dass Russland im Vergleich zu
Deutschland unglaublich konservativ ist. Dies zeigt sich auch in den Meinungen gegenüber
Homosexualität. Ich persönlich erkläre mir dies auch durch den Einfluss der Religion, welche ein
fester Teil der russischen Kultur ist. Obwohl angeblich rund 60% der 143 Millionen Russen atheistisch sein sollen, muss ich aus eigener Erfahrung sagen, dass die Religion, gerade das orthodoxe Christentum, eine omnipräsente Rolle spielt. So besitzt fast jeder Haushalt eine oder sogar mehrere Ikonen (Heiligenbilder). Selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln sind diese nicht zu übersehen.
Mir scheint, als wäre es gar nicht die Religion oder der Glaube an sich, der die Menschen zum
Besitz dieser kleinen Kunstwerke bringt, sondern vielmehr eine Tradition und somit ein mittlerweile
gefestigter Teil der Kultur. Auch die russisch-orthodoxen Kirchen sind absolut bemerkenswert, da sie in ihrer Schönheit und Pompösität einen geradezu erschreckenden Kontrast zu den, sonst doch eher abgenutzen und heruntergekommenen Straßen und der übrigen Infrastruktur in Nischni bilden.

Der russische Straßenverkehr, der auch durch etliche Internetvideos einen doch eher gefährlichen
Ruf hat, hat mich total positiv überrascht. Nach meiner Erfahrung würde ich ihn vielleicht mit den Worten kontrolliertes und funktionierendes Chaos bezeichnen, in welchem ich mich zu keinem Zeitpunkt unsicher gefühlt habe. Gerade an Fußgängerüberwegen wird extrem sorgfältig gehalten und und auch sonst sieht man extrem wenige Unfälle, sogar während des eisigen russischen Winters.
Auch bei Fahrten mit russischen Taxis, welche teilweise in einem interessanten Zustand sind, ist mir
schnell klar geworden, dass die Taxifahrer nicht betrunken sind, sondern einfach nur den
Schlaglöchern auf den Straßen ausweichen. Dennoch muss ich auch hier erneut unterstreichen, dass
ich persönlich nie Bedenken oder gar Sorgen hatte, ein Taxi zu benutzen.
Auf mich persönlich wirkte die teils doch grobe russische Art, die man beispielsweise in
Diskussionen komplett missverstehen kann, zuerst unfreundlich und fast aggressiv. Mittlerweile
habe ich mich daran komplett gewöhnt und würde es vielleicht als leidenschaftlich bezeichnen, wie
Meinungsverschiedenheiten geklärt werden. Auf der anderen Seite wurde mir auf eine Bemerkung
meinerseits versichert, dass es genauso erschreckend auf einen Russen wirkt, wenn er zwei
Deutsche miteinander diskutieren hört.

Wie bereits in meinem ersten Bericht erwähnt, verbirgt sich hinter dieser anfänglichen rauen Art
meist eine aufrichtige und ehrliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Ein weiterer großer Teil der russischen Seele ist die russische Gastfreundschaft, die mich persönlich
absolut beeindruckt hat. Ohne jegliches Zögern wird einem Gast jeder Wunsch, wenn irgend
möglich, versucht zu erfüllen. Gerade wenn man weiß, dass es einem Haushalt finanziell nicht
sonderlich gut geht, kann es sogar unangenehm sein, dass einem mehr versucht wird zu bieten, als
sich die Gastgeber selbst leisten können.

Russische Spezialitäten

Russische Spezialitäten

Vodka ist hierbei nicht nur ein leeres Klischee, sondern ein nicht wegzudenkender Bestandteil eines
jeden Essens. An den russischen Alkoholgenuss musste ich mich ebenfalls erst gewöhnen. Doch auch jetzt finde ich es teilweise erschreckend, morgens auf dem Weg zur Arbeit nach Alkohol riechende Männer in der Marschrutka zu bemerken. Jedoch wird in Russland neben Alkohol auch viel und oft Tee getrunken. Der russische „чай“ ist für mich sehr eng mit der starken russischen Gastfreundschaft verbunden und ein absolut wichtiger Teil der russischen Kultur. Jedoch kann ich selber sagen, dass es bei Außentemperaturen von bis zu -35°C kaum etwas Angenehmeres gibt, als eine warme Tasse Tee.

Die Temperaturen des russischen Winters waren anfangs echt gewöhnungsbedürftig. Umso mehr freut man sich dafür auf den Sommer und darauf, dass man endlich wieder mit Freude auf die Straße gehen kann.
Des Weiteren würde ich sagen, dass viele Russen relativ ungeduldig sind. Dies zeigt sich nicht nur
im Straßenverkehr sondern in vielen Situationen des Alltags. Gerade als Ausländer kann es sein, dass man davon total überrascht wird. Mir persönlich fällt es teilweise jetzt noch schwer, in bestimmten Situationen nachzuvollziehen, aus welchen Gründen in eine eigentlich normale Situation Hektik gebracht wird. Besonders ältere Menschen, scheinen mir dafür ein Talent zu haben.
Generell würde ich sagen, dass der Unterschied zwischen der alten und der neuen, jungen
Generation sehr stark zu sehen ist. Viele junge Russen schauen mit einem gewissen Fernweh nach Westeuropa und besonders auch nach Deutschland. Wobei es auch interessant ist zu bemerken, dass das Wissen über Deutschland nicht immer hundertprozentig der Wahrheit, sondern gerne auch mal einem Idealbild, einer Art
„Wunschdeutschland“ entspricht. Generell würde ich aber sagen, dass die wenigsten, um nicht zu sagen nahezu niemand, eine Abneigung gegen Deutschland oder Westeuropa hat. Die ältere Generation hingegen wirkt auf mich hin und wieder frustriert. Allerdings ist es auch hier schwer zu generalisieren.

Meiner Erfahrung nach sind Russen im Generellen sehr lebensfroh und brauchen nicht viel um
fröhlich zu sein. Gerade diese Lebenseinstellung finde ich absolut faszinierend und
bewundernswert. Wie eingangs berichtet, ist Russland unglaublich vielseitig und vielschichtig. Für mich war es auch interessant zu sehen, wie beispielsweise Moskowiter Nischni Nowgorod sehen und auch was
Menschen aus Nischni über ihre Hauptstadt denken. In einem Punkt sind sich beide Seiten einig.
Moskau ist zwar die Hauptstadt des Landes, hat aber sonst nicht wirklich viel mit Russland zu tun.
Gerne wird Moskau mit seinen Einwohner als „reich und arrogant“ wahrgenommen, während
Nischni, trotz seiner 1,3 Millionen Einwohner, als Dorf im Vergleich zur ‚Superstadt‘ gesehen wird.

Winterlicher Blick auf Nischni und die Wolga

Winterlicher Blick auf Nischni und die Wolga

Abschließend kann ich sagen, dass ich froh bin, meinen Freiwilligen Friedensdienst in Nischni
Nowgorod und nicht beispielsweise in Sankt Petersburg oder Moskau zu leisten. Wie oben
beschrieben, kenne ich Petersburg und Moskau mittlerweile und kann aus eigener Erfahrung sagen,
dass St. Peterburg und besonders Russlands Hauptstadt nicht ansatzweise so ‚russisch‘ sind wie es
Nischni ist. Selbstverständlich muss ich sagen, dass mein Blickwinkel auf dieses unglaublich große und
vielseitige Land bis jetzt noch relativ eingeschränkt ist, da ich von Russland bis jetzt nur einen sehr
kleinen Teil kennengelernt habe, doch gleichzeitig hoffe ich, diesen in naher Zukunft zu vergrößern.