Abschlussbrief Marius Voss

Unser aktueller Friedi Marius hat sein FSJ in Nischni nun beendet und beschreibt seine Erfahrungen und Eindrücke nach einem Jahr Russland anschaulich wie kritisch.. Vielen Dank für diesen schönen Bericht und eine gute Rückkehr nach Deutschland. Viel Freude beim Lesen dieses interessanten Berichts. Marius‘ vorherige Berichte und die der anderen Friedis finden Sie hier.

Hallo an alle Interessenten und Unterstützer,

es ist tatsächlich soweit; die Flugdaten stehen inzwischen fest, die letzten Tage meines Freiwilligen Friedensdienstes sind angebrochen und meine Rückkehr nach Deutschland ist in greifbare Nähe gerückt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ein viertes und letztes Mal aus Russland von meinen Erlebnissen berichten.

Dabei soll es zunächst einmal um die sehr ereignisreichen vergangenen drei Monate seit meinem letzten Rundbrief gehen.

Insbesondere möchte ich aber einen Rückblick über das gesamte Jahr wagen, mir die Frage der Nachhaltigkeit meiner sozialen Arbeit hier in Nischni Nowgorod stellen und meine Erlebnisse in den verschieden Bereichen des Lebens in Russland reflektieren.

Beschäftigt man sich mit der Frage der Nachhaltigkeit, wirft man unweigerlich einen Blick in die Zukunft. Auch ich will das in diesem Zusammenhang tun und darlegen wie in meinen Augen ein solcher Friedensdienst, im Kleinen den Zusammenhalt in Europa und der Welt stärken kann und zur Völkerverständigung beiträgt.

Ende Mai endete das Schuljahr in Russland mit dem Beginn der langen Sommerferien. Für mich war der letzte Arbeitstag in der Schule natürlich ein Tag voller Verabschiedungen; von den Kindern, mit denen ich so lange Zeit zusammengearbeitet hatte, von deren Eltern, die mich natürlich auch in meiner Arbeit wahrgenommen haben und natürlich von den Lehrern, mit denen ich viele interessante Gespräche geführt hatte.

Für die ersten Ferienwochen hatten mein Mitfreiwilliger und ich schon seit langem eine große Reise gen Osten geplant, ein großer persönlicher Traum, den ich mit in dieses Jahr genommen hatte und nun tatsächlich verwirklichen konnte. Anfang Juni ging es also zu zweit mit dem Flieger von Moskau 4400 Kilometer Richtung Osten nach Ulan Ude, eine russische Stadt östlich vom Baikalsee.

Direkt, wenn man das kleine Flughafengebäude verlässt und dabei an einer buddhistischen Gebetsmühle vorbeiläuft, merkt man, dass man sich jetzt in einem ganz anderen Teil Russlands befindet. Die Landschaft wirkt sandiger und karger, die Menschen sehen großen Teils asiatisch aus und haben einen dunkleren Hauttyp.

Ulan Ude ist die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien. Die Region gilt als buddhistisches Zentrum Russlands. Auch deshalb ist mir neben der beeindruckenden, steppen-artigen Landschaft, besonders der Besuch eines buddhistischen Tempels in Erinnerung geblieben.

Nach ein paar Tagen in Ulan Ude fuhren wir dann mit dem Bus knapp 600 Kilometer Richtung Süden nach Ulan Bator in die Hauptstadt der Mongolei. Allein diese zwölfstündige Busfahrt über teils abenteuerliche, unbefestigte Straßen, durch karge Steppenlandschaft, vorbei an halbwilden Pferden, Schafs – und Rinderherden, war ein erstes Highlight der gesamten Reise. Während der ganzen Busfahrt hat man nur selten mal ein kleines Dorf, und sonst nur vereinzelt die klassischen Jurten (traditionelle Zelte), der mongolischen Nomaden gesehen, die noch heute vornehmlich von Viehzucht leben.

So war die Ankunft in der Millionenstadt Ulan Bator fast so was wie ein kleiner Kulturschock. Ulan Bator entsprach meiner Vorstellung von einer asiatischen Großstadt – Wolkenkratzer, viel Verkehr, schlechte Luft, Hektik. Trotzdem ist Ulan Bator eine sehenswerte, pulsierende und vor allem interessante Stadt. Grade die vielen buddhistischen Tempel und Klöster, deren Mönche man in ihren roten Kutten in der ganzen Stadt sehen kann, bieten einen kulturellen Gegenpool, zu den eben genannten Attributen der Stadt.

Nachdem wir ein paar Tage in Ulan Bator verbracht hatten, fuhren auf dem gleichen Weg per Bus zurück nach Ulan Ude und von dort aus direkt weiter per Schlafzug nach Irkutsk. Von Irkutsk ließ sich unser nächstes Ziel, der Baikalsee, in einer einstündigen Busfahrt gut erreichen.

Am Baikalsee haben wir eine dreitägige Wanderung in einzigartiger Natur, meist mit wundervollen Blick auf den See, abseits von jeglicher Zivilisation, unternommen. Übernachtet haben wir zweimal in einem kleinen Dorf namens Bolschije Koty. Dort gab es keine Autos, keinen Handyempfang, kein fließend Wasser. Außer ein paar Holzhäusern (eines davon unser Hostel), einem Dorfladen und einer Bootsanlegestelle gab es dort nichts. Die einzige Möglichkeit das Dorf zu erreichen, war zu Fuß oder eben per Boot über den Baikalsee, dessen Wasser so klar ist, dass man im Uferbereich problemlos mehrere Meter bis auf den Grund schauen kann.

Nach dem Abstecher zum Baikalsee haben wir uns noch ein paar Tage die historisch interessante Stadt Irkutsk angeschaut, ehe wir per Zug auf der Strecke der transsibirischen Eisenbahn 32 Stunden nach Nowosibirsk fuhren.

Nowosibirsk ist die größte Stadt Sibiriens und nach Moskau und Sankt Petersburg die drittgrößte Stadt Russlands. Als sehr junge Stadt ist sie weniger von kultureller Bedeutung, sondern vor allem eine wichtige Wirtschaftsmetropole. Von Nowosibirsk ging es dann weiter, wieder auf der Strecke der transsibirischen Eisenbahn gen Westen, wo wir nach diesmal „nur“ 22 Stunden Zugfahrt unser letztes Reiseziel Jekaterinburg erreichten.

Jekaterinburg – die viertgrößte Stadt Russlands – liegt mitten im Ural, nur rund 40 Kilometer östlich der imaginären Trennlinie zwischen Europa und Asien. Besonders der Besuch im Jelzin-Center, welches ein interessantes Museum über die jüngere russische Politikgeschichte beheimatet, sowie der Besuch einer Schwanensee-Vorstellung im Jekaterinburger Opernhaus, zu der wir kostenlos mitgenommen wurden, rundeten die Reise ab.

Nach insgesamt 24 erlebnisreichen Reisetagen kamen wir dann Ende Juni mit dem Zug wieder in Nischni Nowgorod an.

Seit der Rückkehr nach Nischni, dass in diesem Jahr so was wie eine zweite Heimat für mich geworden ist, nutze ich natürlich einen Teil der freigewordenen Zeit, um vermehrt meine Invaliden Roman und Ela zu besuchen. Aktuell geht es ihnen den Umständen entsprechend sehr gut und wir haben viel Spaß bei unseren gemeinsamen Aktivitäten.

Alle drei, also die Oma Natascha, Ela und ganz besonders Roman sind mir während des Jahres unheimlich ans Herz gewachsen und der bevorstehende Tag des Abschiedes, wird für alle bestimmt nicht einfach werden.

Blicke ich auf meine Arbeit während dieses Jahres hier zurück, überwiegt vor allem Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, eine Arbeit geleistet zu haben, die in meinen Augen von großer Bedeutung ist. Dankbarkeit auch dafür, Erfahrungen im Umgang mit Menschen gesammelt zu haben, die auf Deine Hilfe dringend angewiesen sind. Man lernt Berührungsängste abzubauen und zu guter Letzt Dinge zu schätzen, die man zuvor als selbstverständlich wahrgenommen hat.

Doch es sind natürlich nicht nur meine beiden Arbeitsstellen die meinen Erfahrungsschatz während dieses Jahres vergrößert haben. Ich habe ein mir bis dato größtenteils fremdes Land mit all seinen Facetten kennengelernt, Sprachkenntnisse vertieft und angewandt, unheimlich viele nette, interessierte Menschen getroffen, Freundschaften geschlossen.

Das Leben in einem runtergekommenen Plattenbau, der sehr lange kalte Winter, dreckiges Leitungswasser – und mir würde an dieser Stelle noch viel mehr einfallen – sind Beispiele für  Lebensumstände in vielen russischen Städten, die ich aus Deutschland in dieser Form nicht kannte. Dabei fand ich es bemerkenswert wie schnell ich mich an alles Neue hier gewöhnt habe und wie man sich in gewisser Form an die Umstände angepasst hat.

Trotzdem gibt es Dinge, die man das ganze Jahr über irgendwie vermisst. An erster Stelle seien da deutsche Lebensmittel genannt. Auf günstige und vor allem gute Milchprodukte (Käse, Jogurt) oder auch einfach vernünftige Wurst werde ich mich in Deutschland auf jeden Fall freuen.

Interessant zu sehen war auch, dass ein Teil der Vorurteile, die ich vor dem Jahr Russland gegenüber hatte, sich im Laufe der Zeit bestätigt haben. Würde man mich an dieser Stelle jedoch fragen, was „typisch russisch“ ist, fiele mir die Antwort dennoch schwer.

Ja es gibt auf der einen Seite diese Klischees, die sich wie gesagt durchaus bewahrheitet haben. Auf der anderen Seite ist Russland so riesig und unglaublich vielfältig, dass es auf diese Frage nicht eine Antwort geben kann. Diese Diversität durchzieht alle Bereiche. So gibt es in Russland beispielsweise mit Ausnahme der Tropen alle Klimazonen. Es gibt Teilrepubliken die vornehmlich muslimisch geprägt sind, das weit verbreitete orthodoxe Christentum, aber auch buddhistische und andere religiöse Minderheiten. Das Leben in den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg ist weder mit dem Leben in einem russischen Dorf, noch mit der Situation in Städten wie beispielsweise Nischni Nowgorod oder Nowosibirsk zu vergleichen. Das asiatische Ulan Ude hat weder Gemeinsamkeiten mit Jalta auf der Krim, noch mit dem modernen Jekaterinburg im Ural.

Was all diese Gebiete und unterschiedlich geprägten Einwohner der verschiedenen Städte und Regionen verbindet, ist die gemeinsame Sprache und die Identität als Russin bzw. Russe.

Lebt man hier für eine längere Zeit und lernt Russland näher kennen, dann entwickelt man mehr und mehr ein Verständnis für die Dinge, die man zu Beginn belustigend oder befremdlich fand. Einfach ausgedrückt beginnt man die Vorurteile zu verstehen und mit jeder Reise und jeder Begegnung lernt man einen neuen Teil oder Blickwinkel dieses gewaltigen Landes kennen und erweitert so seine Sicht auf die Nation, ihre Bevölkerung und ihre Kultur.

Gerade in Russland, als Nation mit ganz großen sozialen Unterschieden, ist mir noch einmal viel deutlicher geworden wie stark die Lebensbedingungen, sei es der kalte, raue Winter und die Lebensumstände, wie Arbeit, finanzielle Situation, Gesundheitsversorgung oder Bildung, einen Menschen prägen und auf ihn abfärben.

Nun, da meine Rückkehr nach Deutschland unmittelbar bevorsteht, frage ich mich natürlich, was ich in diesem Jahr nachhaltig bewirkt habe. In meinen Augen muss man an diesem Punkt zwei Bereiche unterscheiden. Auf der einen Seite meine Arbeit mit den Menschen mit Behinderungen, auf der anderen Seite mein persönliches Sozialleben hier in Russland.

Blicke ich auf den Teil der sozialen Arbeit ist es, um ehrlich zu sein, schwierig einen großen nachhaltigen Erfolg zum jetzigen Zeitpunkt zu erkennen. In der Schule haben wir am Ende des Schuljahres mit den Kindern die gleichen Aufgaben gemacht, wie am Anfang des Schuljahres – ein wirklicher Fortschritt, kaum zu erkennen.

Mit der Lehrerin der Klasse 4B habe ich mich eines Tages einmal lange über dieses Thema, also die Entwicklung und Zukunft der Kinder unterhalten. Für jemanden, der tagtäglich den gleichen Tagesablauf mit den Kindern durchlebt, sei es natürlich schwer zu erkennen, was für Fortschritte die einzelnen Kinder im Laufe der Zeit machen würden, sagte sie und zeigte mir Bilder der Kinder von vor vier Jahren. Betrachtet man, wie an jenem Tag getan, einen noch viel größeren Zeitraum als ein Jahr, ist auch bei den autistischen Kindern der Schule 39 eine beachtenswerte Entwicklung zu erkennen. An diesem Punkt erinnere ich mich an den Anfang des Schuljahres zurück, wo ich es nach wochenlangem Üben tatsächlich geschafft habe, dem autistischen Jungen Egor aus der Klasse 6D beizubringen, seinen Rucksack alleine zu öffnen – einer der vielen ganz kleinen Schritte.

Ich habe in diesem Schuljahr zusammen mit den vielen engagierten LehrerInnen also eine Arbeit geleistet, deren Ertrag man erst in ein paar Jahren wirklich erkennen kann. Das Engagement in der Schule 39 ist sozusagen vor allem eine Investition in die Zukunft der Kinder.

In Bezug auf die Arbeit mit den Invaliden sieht die ganze Sache etwas anders aus. Die Arbeit, die die anderen Freiwilligen und ich dort geleistet haben, war Soforthilfe.

Drastisch, aber natürlich vor allem realistisch gesehen, wäre Roman ohne meine Hilfe dieses Jahr nicht gewaschen worden und er und seine Tante Ela, ohne meinen Mitfreiwilligen Juri und mich, wahrscheinlich kaum vor die Tür gekommen. Ich muss also nicht extra betonen, von welcher Bedeutung und Wichtigkeit unsere Arbeit an dieser Arbeitsstelle ist und war.

Während dieses Jahres haben wir versucht, unseren Invaliden ihr teilweise sehr hartes und trostloses Leben zu erleichtern; ihnen bei ihren Alltagsproblemen zu helfen, Gesprächspartner zu sein und ihnen vielleicht den einen oder anderen schönen Moment zu verschaffen.

Nachhaltig ihre Situation verändern oder verbessern konnten wir natürlich nicht. Doch wie kann auch dieses Invaliden-Projekt in gewisser Form nachhaltig sein? Wie kann vermieden werden, dass nach unserer Abreise alles wie vorher ist und die Invaliden ohne Hilfe und Unterstützung dastehen?

Es gibt eine einfache Antwort. Es muss Nachfolger geben. Junge Menschen, die sich für einen solchen Freiwilligen Friedensdienst begeistern lassen, sodass sich jedes Jahr im Herbst eine kleine Gruppe neuer Freiwilliger nach Nischni Nowgorod aufmacht und das Projekt am Leben hält.

An dieser Stelle bin ich äußerst froh mitteilen zu können, dass sich für nächstes Jahr (17/18) Nachfolger gefunden haben, die unsere Arbeit hier weiterführen werden.

Es ist aber leider so, dass die verschiedensten Endsendeorganisationen solcher sozialen Freiwilligendienste mit rückläufigen Bewerberzahlen zu kämpfen haben. Auch deshalb ist es wichtig, dass eine breite Öffentlichkeit von den verschiedensten Projekten erfährt, um auch in Zukunft junge Menschen auf die Möglichkeit eines solchen Friedensdienstes aufmerksam zu machen.

Neben dem Teil der sozialen Arbeit, gibt es wie gesagt noch einen weiteren wichtigen Aspekt: mein persönliches Sozialleben hier in Russland.

Im Laufe eines solchen Jahres lernt man unheimlich viele Menschen kennen, man führt Gespräche, tauscht sich aus und stößt oft auf gegenseitiges Interesse. In der Fremde wird man dabei natürlich häufig auch mit Klischees über das eigene Land konfrontiert. Dabei gibt es natürlich Dinge die wirklich „typisch deutsch“ sind. Viele Vorurteile, grade was deutsche Politik oder aktuelle Geschehnisse wie die Flüchtlingskrise angeht, beruhen aber auf der oft einseitigen Berichterstattung russischer Medien über das Ausland. Indem man seine persönliche Sicht bzw. seine persönliche Wahrnehmung bezüglich solcher Themen schildert, hat man es aber sehr leicht, Vorurteile abzubauen.

Es ist also natürlich nicht nur so, dass ich ein fremdes Land mit seiner Kultur kennengelernt habe, sondern war ich auch, in gewisser Form ein Botschafter für meine Heimat, für Westeuropa, für Deutschland, in Russland.

Dieser gegenseitige Austausch ist ein Teil der Völkerverständigung. Das ganze spielt sich natürlich im Kleinen, auf einer persönlichen Ebene ab, wobei aktuelle politische Beziehungen und Probleme in der Diplomatie zum Glück nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Gerade wir jungen Menschen erkennen, dass wir unabhängig von der Herkunft oft die gleichen Interessen, die gleichen Erwartungen vom Leben und von der Zukunft haben.

Gegenseitige Verständigung, nachhaltige Freundschaft auf persönlicher Ebene, können irgendwann dazu beitragen, dass man sich auch auf politischer und diplomatischer Ebene in Zukunft wieder näher kommt.

Gerade für Europa ist es wichtig eine gute Beziehung zu unserem Nachbarn im Osten zu pflegen, da wir uns so auch unabhängiger von unserem zur Zeit launischen Partner im Westen machen.  Grundvoraussetzung dafür ist ein starkes und einheitliches Auftreten Europas. Dafür müssen wir  die derzeitigen Gräben in unserer eigenen Union schließen, denn nur so können wir sowohl Russland als auch Amerika auf Augenhöhe gegenüber treten.

Soziale Arbeit ist Nächstenliebe, Austausch ein wichtiger Teil der Völkerverständigung – ich bin dankbar, die Möglichkeit gehabt zu haben einen freiwilligen Friedensdienst zu absolvieren und bin gespannt auf  den Austausch mit meinen Mitfreiwilligen über ihre Erfahrungen aus aller Welt beim bevorstehenden Rückkehrer-Seminar.

Ein letztes Mal mit lieben Grüßen aus Nischni Nowgorod,

Marius Voss